Abschied vom Leben

Sterbehilfe: Darf man sein Leben selbst beenden? Ein Streitgespräch 

Grafik: m23/Fons Hickmann; Gespräch: Christoph Wand 

Der Abschied vom Leben ist ein endgültiger. Ob man über ihn auch selbst entscheiden darf und ob man sogar Menschen helfen darf, ihr eigenes Leben zu beenden – bei dieser Frage scheiden sich die Geister. In der Schweiz begleiten seit Jahrzehnten Sterbehilfe-Vereine Menschen beim Suizid. Wir sprachen mit Dr. med. Marion Schafroth, Präsidentin des Schweizer Sterbehilfevereins Exit, und dem Präsidenten der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, über das kontroverse Thema.
 

Sehr geehrte Frau Schafroth, das Thema Sterbehilfe oder assistierter Suizid emotionalisiert. Da gibt es Menschen, die von Ihnen als Todesengel sprechen.

Marion Schafroth Darauf reagieren wir relativ gelassen. Solche Statements sind Einzelmeinungen. Exit hat es im Laufe der 40 Jahre seiner Existenz geschafft, durch seriöse, überzeugende, transparente Arbeit und Kommunikation das Vertrauen zu schaffen, dass wir keine Todesengel sind, dass wir kein Geschäftsmodell verfolgen, dass es uns nicht darum geht, möglichst viele Menschen beim assistierten Suizid zu begleiten. Sondern dass es uns darum geht, über die Möglichkeit dazu ergebnisoffen zu sprechen – mit Menschen, die das wollen. Wenn wir dann sehen, jemand möchte wohlüberlegt diesen Schritt gehen, dann sagen wir Ja, dann bieten wir die Unterstützung dazu an, aber immer im Rahmen der auch in der Schweiz geltenden Gesetze und Regeln.

Wie sind denn diese Regeln?

Schafroth Es gibt erstaunlich wenig gesetzliche Regelungen, aber es ist kein regelfreier Raum. Wir haben die Verfassung, die sagt: Leben muss geschützt sein. Auf der anderen Seite gibt es die persönliche Freiheit. In unserem Strafgesetzbuch steht: „Hilfe beim Suizid ist nicht strafbar“, jedenfalls nicht, wenn sie uneigennützig erfolgt. Dazu haben wir auch noch die Regeln, die wir bei Exit aufgestellt haben. Zum Beispiel zu der Frage: „Dürfen wir auch helfen, wenn jetzt ein kerngesunder Mensch kommt und sagt, ich möchte sterben?“ Dazu hatten wir eine sehr lange Diskussion und am Ende festgeschrieben: Den kerngesunden Menschen begleiten wir nicht in den Tod. Es muss entweder eine tödliche Krankheit oder ein subjektiv unerträgliches Leiden vorliegen. Und wir achten darauf, dass es keine krisenhafte Entscheidung ist, sondern eine wohlüberlegte.

Wäre das auch ein Modell, dem Sie vertrauen, Herr Lilie?

Ulrich Lilie Ich will jetzt das Modell von Exit nicht im Einzelnen beurteilen, aber noch einmal deutlich machen, worum es mir geht, weil ich finde, dass das oft zu kurz kommt: Jeder Mensch, der schwer krank wird, der alt wird, muss sich erst mal darauf verlassen dürfen, dass er bestmöglich versorgt wird, so, dass er eines natürlichen Todes sterben kann, und zwar so begleitet, dass das mit möglichst wenig Leiden passiert. Ich habe selbst lange im Krankenhaus und Hospiz gearbeitet und weiß, dass da inzwischen enorm viele Möglichkeiten bestehen. Das bedeutet Sterbebegleitung statt Sterbehilfe? Lilie Ich glaube auf jeden Fall, dass wir viel mehr darüber reden müssen, was vorher passiert oder was da zu wenig passiert. Menschen mit einer schweren Erkrankung oder einer akuten Krise müssen erst einmal Zugang zum Hilfesystem und eine gute fachliche Unterstützung bekommen, dazu gehört eine gute Schmerztherapie genauso wie eine gute seelsorgliche und psychologische Unterstützung.

Jetzt gibt es in der Schweiz schon seit vielen Jahren eine geübte Praxis zur Sterbehilfe und in Deutschland nur heftige Diskussionen und keine Ergebnisse, jedenfalls nicht auf gesetzlicher Ebene. Woran liegt das?

Lilie Weil wir natürlich eine Geschichte mit dem Thema haben, diese furchtbare Geschichte der Euthanasie der Nazis, der massenhaften Tötung von Menschen, die als unwertes Leben bezeichnet wurden. Dieses gesellschaftliche Trauma ist mir übrigens schon begegnet, als wir damals in Düsseldorf die Idee hatten, ein Hospiz zu gründen. Da kam auf einmal aus kirchlichen Kreisen der Vorwurf, wir wollten eine Sterbeklinik gründen. Das alles spielt weiterhin eine Rolle in unserer Gesellschaft, und darum sind wir, glaube ich, in Deutschland auch gut beraten, diese Diskussion sorgfältig zu führen.

Schafroth Absolut klar, mit diesem geschichtlichen Hintergrund ist es logisch, dass Deutschland diese Diskussion anders führt und dass es länger dauerte, bis sie überhaupt führbar wurde. Ich denke, es gibt noch einen zweiten Grund. In der Schweiz ist die Bevölkerung schon länger daran gewöhnt, dass sie ihre Anliegen basisdemokratisch einbringen kann, mit Initiativen, mit Abstimmungen. Wir sind es gewöhnt, dass wir in der Politik mitsprechen dürfen und dass wir genau solche wichtigen Fragen der Freiheit mitentscheiden dürfen. Die Diskussion um den assistierten Suizid war bei uns eine Bewegung von unten.

Lilie Ich würde Ihnen zustimmen, dass bei uns immer noch zuerst auf die Instanzen geschaut wird, die das für uns einschätzen und regeln sollen. Aber in dieser Frage ist es ja tatsächlich eher eine Frage der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen. Und da müssen wir auch als Kirchen sehr aufpassen, dass wir eine solche paternalistische Haltung weder an- noch einnehmen, sondern eben sehr klar sagen: Ja, grundsätzlich gilt: „Du sollst nicht töten“, aber die Verantwortung und die freie Entscheidung eines jeden Einzelnen ist auch ein hohes Gut. Jeder Einzelne verantwortet seinen Glauben, das ist das reformatorische Prinzip, vor sich, den anderen und vor Gott. Wir sollten dazu beitragen, dass die oder der Einzelne eine möglichst gut ausgewogene, der Situation gerecht werdende Entscheidung treffen kann, aber diese gilt es dann auch zu akzeptieren.

Und wenn sich der oder die Einzelne dann für den Suizid entscheidet, darf man auch helfen?

Lilie Wir müssen da differenzieren nach unterschiedlichen Kontexten. Nehmen Sie als Beispiel einen Menschen mit solchen Wünschen, der in einer diakonischen Pflegeeinrichtung lebt. Dann sind von einem solchen Wunsch auch andere betroffen, da sind die Mitarbeitenden in diesem Haus, da sind auch die, die Verantwortung für das Ethos dieses Hauses tragen. Da müssen sich dann die Verantwortlichen mit den Mitarbeitenden zusammensetzen und darüber reden, was können und wollen wir tun, wenn solche Situationen entstehen? Und es muss aus meiner Sicht sichergestellt sein, dass niemand gezwungen werden kann zur Beteiligung an Handlungen, die er für sich und sein Gewissen nicht verantworten kann. Wir haben vergleichbare und gute Erfahrungen mit einer anderen heiklen oder auch sensiblen ethischen Diskussion gemacht, nämlich bei der Frage der Spätaborte. Wir haben viele evangelische Kliniken mit Kreißsälen und geburtshilflichen Abteilungen bei Trägern, die auch große Bereiche für Menschen mit Behinderungen haben. Da gab es viele Menschen, die sagten: „Wir setzen uns hier für eine inklusive Gesellschaft ein, in der Menschen mit und ohne Behinderung ohne Angst verschieden sein dürfen. Und ihr sorgt dafür, dass Kinder mit Trisomie 21 gar nicht auf die Welt kommen. Das kann doch nicht sein.“ Es gab vielerorts vorbildliche Dialogprozesse, die dann zu gut begründeten Sowohl-als-auch-Strategien führten. Im Zweifelsfall begleiten wir – nach eingehender Beratung – die Eltern, die die letzte Verantwortung tragen, unabhängig davon, wie sie sich am Ende entscheiden. Das widerspricht eben nicht unserem Leitbild einer inklusiven Gesellschaft, sondern das spiegelt den Respekt vor der Entscheidung derjenigen, die am Ende – im Rahmen des Rechts – darüber entscheiden dürfen und müssen.

Schafroth Das sind die gleichen Diskussionen, die wir auch geführt haben und teils immer noch führen. Es ist ein Prozess, der weiterhin Zeit und viele Diskussionen braucht. Was Einrichtungen wie Altenheime betrifft: Etwa die Hälfte der Altenheime in der Schweiz lässt inzwischen eine Suizidbegleitung in ihren Räumen zu. Das Personal des Altenheims ist beim assistierten Suizid nicht direkt involviert, denn sowohl für die nötigen Vorgespräche wie für die Suizidbegleitung kommt unsere Begleitperson vor Ort.

Herr Lilie, könnten Sie sich eine solche „Aufgabenteilung“ auch in Deutschland vorstellen? Was halten Sie von Sterbehilfe-Vereinen?

Lilie Ich glaube, es gibt wirklich Organisationen, die sich ohne Gewinnerzielungsabsicht in den Dienst der Menschen in tragischen Situationen stellen und das menschenwürdig und so gut wie möglich begleiten wollen. Es gibt aber auch andere, die haben immer noch die Idee, ein Geschäftsmodell daraus zu machen. Und das darf niemals passieren. So wie ich Frau Schafroth verstehe, ist das aber bei Exit nicht so.

Frau Schafroth, gibt es denn trotzdem Fälle bei Ihnen, wo Sie hinterher gedacht hätten, vielleicht hätten Sie besser anders entschieden?

Schafroth Mir ist nichts bekannt. Jeder assistierte Suizid ist rechtlich gesehen ein außergewöhnlicher Todesfall, muss als solcher gemeldet werden und wird amtlich überprüft. Es gab einzelne Fälle, wo Untersuchungen eröffnet wurden oder der Staatsanwalt gesagt hat: „Jetzt müssen wir alle Akten haben.“ Am Ende stellte sich aber immer heraus, dass alles korrekt war. Die Kontrolle, die wir haben, schließt Missbrauch wirklich aus.

Lilie Das ist natürlich als Allererstes wichtig, Missbrauch auszuschließen. Aber ich finde, dass wir auch ausschließen müssen, dass diese Option sozusagen zum gesellschaftlichen Normalfall wird. Wenn wir jetzt deutlich wahrnehmen würden, dass die Zahlen durch die Decke gehen, dann müssen wir fragen, warum? Was machen wir verkehrt, dass so viele Leute das sozusagen nur noch als einzige Option sehen?

Schafroth Aber was heißt „durch die Decke gehen“? Ich bin überzeugt, dass die Fallzahlen zunehmen werden. Doch die Ursache liegt nicht darin, dass wir als Gesellschaft moralisch verwahrlosen oder jedes Maß verlieren, sondern darin, dass die Medizin immer mehr Möglichkeiten bietet, länger am Leben zu bleiben. Der natürliche Tod, wo man einfach einschläft, wird immer seltener. Immer öfter müssen Entscheidungen getroffen werden: Manchmal geht es darum, ob Therapien abgesetzt werden sollen; zunehmend eben auch um den selbstbestimmten Abschied vom Leben.

Lilie Gleichzeitig müssen wir aber auch sehen, dass wir in einer Welt leben, in der zum Teil völlig absurde Bilder vom Leben im Alter gezeichnet werden. Da wird auch mit Fake-Bildern vom Älterwerden gearbeitet, dass das Leben nur noch lebenswert ist, wenn man fit und faltenlos ist. Das führt oft dazu, dass manche solche lebensuntauglichen Zerrbilder als inneres Bild übernehmen. Zu viele sagen darum, also wenn ich hilfsbedürftig bin oder wenn ich mal demenziell erkranke, dann will ich auf keinen Fall mehr leben, weil ich ja dann nicht mehr so großartig bin, wie es uns in den sozialen Medien oder in der Werbung verkauft wird. Das halte ich für gefährlich. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der Gebrechlichkeit automatisch mit dem Ruf nach dem Freitod verbunden wird. Das fände ich furchtbar. Ich habe sehr oft erlebt, wie lebenswert auch gebrechliches, fragmentarisches Leben ist.

Schafroth Wir sind da gar nicht so weit voneinander entfernt. Normalität wird der assistierte Suizid nie werden. Das macht jeder einzelne Fall, den wir begleiten, deutlich. Jedoch plädiere ich klar dafür, dass es zur Normalität werden sollte, dass man als altersgebrechliche Person über alle Optionen sprechen darf und diese auch für sich persönlich erwägen darf. Solche Gespräche sollen nicht mehr tabuisiert werden.

Lilie Da bin ich auch bei Ihnen. Wir müssen auch im Sinne von Enttabuisierung und einer wirksamen Suizid-Prävention bei Sterbewünschen und Fragen am Ende des Lebens sprechfähiger werden.

Dann jetzt einmal ohne Tabu: Würden Sie selbst am Ende des Lebens einen assistierten Suizid in Erwägung ziehen?

Schafroth Es ist nicht das, was ich mir wünsche. Ich möchte, wenn möglich, das erleben, was die Natur mit sich bringt. Aber nicht um jeden Preis. Ich leide nicht gerne, nein, wenn es zu viel ist, dann wäre es eine Option. Und ich finde es wunderbar, dass es diese Option gibt.

Lilie Ich liebe das Leben und würde mir wünschen, dass es natürlich endet. Aber das Leben ist ja eben ein Geheimnis, Gott sei Dank, und wir wissen nicht, in welche Situation wir noch kommen. Am Ende liegt nicht nur unser Leben, sondern auch der Abschied vom Leben in Gottes Hand. 

Dr. Marion Schafroth ist Präsidentin des Sterbehilfevereins Exit Deutsche Schweiz, mit über 155 000 Mitgliedern eine der größten Vereinigungen der Schweiz. Schafroth ist Anästhesistin. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne. 

Ulrich Lilie ist ein deutscher evangelischer Theologe, seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland und seit 2020 stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung.

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Hintergründe  

Der Verein Exit wurde 1982 gegründet und ist damit die älteste Sterbehilfe-Organisation der Schweiz. Mit mehr als 160.000 Mitgliedern ist sie auch eine der größten weltweit. Mehr Informationen gibt es hier

Die Positionen der Diakonie Deutschland zum selbstbestimmten Sterben finden Sie hier

Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar – unter 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich unter www.suizidprophylaxe.de