Verwaiste Eltern

Ein Kind zu verlieren, wirft das Leben aus der Bahn. In der Gruppe für verwaiste Eltern unterstützen Ulrike Wewer und Elke Windeln Betroffene dabei, die Trauer anzunehmen.

Text: Caroline Scholz, Fotos: David Ertl 

In der Mitte des Stuhlkreises liegen mehrere Zettel. Darauf stehen die Lebensdaten der Kinder, deren Eltern in dieser Gruppe zusammenkommen. Ein Name, ein Geburtsdatum – und ein Todesdatum. Letzteres ist auch der Grund, warum sie hier sind: Alle haben ein Kind verloren. Über ein Jahr treffen sie sich einmal im Monat und versuchen, das Unfassbare ein wenig fassbarer zu machen und einen Weg zu finden, weiterzumachen.

Das Gruppenangebot gibt es seit 2011 – seit 2017 betreuen Ulrike Wewer und Elke Windeln die Gruppen. Elke Windeln ist Sozialpädagogin. Ulrike Wewer ist Theologin und leitet die Evangelische Beratungsstelle der Diakonie in der Düsseldorfer Altstadt. Dass die Arbeit in der Gruppe ein Jahr dauert, hat einen guten Grund. So kommen alle besonderen Feier- und Gedenktage zumindest ein Mal vor. Der Geburtstag des Kindes, der Todestag, Weihnachten, Ostern – alle Tage und Phasen eines Jahres, zu denen es besonders schwer sein kann, mit der Trauer umzugehen. 

Vom Reden und Aushalten 

Sechs Menschen nehmen momentan an der Gruppe teil. Nicht immer sind es Elternpaare – oft kommen auch Elternteile einzeln. Auch wenn Eltern gemeinsam kommen, geht es hier um die Erfahrungen und Themen von jeder und jedem Einzelnen. Bevor die Gruppe die Arbeit aufnimmt, führen alle ein Vorgespräch mit den Gruppenleiterinnen. So soll schon einmal vorgefühlt werden: Halten die Ratsuchenden es aus, auch andere über den Tod ihres Kindes sprechen zu hören? 

Außerdem wollen Ulrike Wewer und Elke Windeln sichergehen, dass die Gruppe gut zusammenpasst. Nach dem Arche-Noah-Prinzip soll es zumindest „zwei von jeder Art“ geben – und jede Art meint hier, dass die Kinder, die verstorben sind, in einem ähnlichen Alter waren. Dieses Alter ist ganz unterschiedlich. Die Eltern haben Kinder verloren, die das Kleinkindalter nicht überschritten haben, aber auch Kinder, die schon erwachsen waren und ein selbstständiges Leben geführt haben – und ganz viel dazwischen. Einzige Bedingung ist, dass das Kind eine Weile gelebt hat, also nicht vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben ist. „Diese Fälle sind einfach anders gelagert“, sagt Ulrike Wewer. „Deshalb gibt es dafür noch einmal spezielle Angebote in unserer Beratungsstelle.“ 

Die Sitzungen der Trauergruppe für verwaiste Eltern laufen immer ähnlich ab. Am Anfang ist Zeit, anzukommen. Reihum können alle von dem erzählen, was sie gerade beschäftigt. Das muss nicht immer mit der Trauer zu tun haben. Es kann auch um alltägliche Dinge gehen, die gerade „obenauf liegen“: der Urlaub, aus dem man gerade nach Hause gekommen ist, die Erkältung, von der man sich erholt, der Stress bei der Arbeit, der einem noch nachgeht. Doch oft sind es eben die Trauer und Dinge rund um den Tod des Kindes, die zur Sprache kommen. 

Vom Aufbewahren und Weggeben

Nach einer kurzen Pause gibt es dann meist einen Input der Leiterinnen zu wichtigen Themen der Trauer, wenn man ein Kind verloren hat. Insgesamt halten sie sich aber zurück. Vielmehr geben sie den Teilnehmenden Anstöße, den Austausch untereinander mit eigenen Gedanken und Erfahrungen zu füllen. „Wir sind vor allem für den Rahmen und die Struktur verantwortlich“, sagt Elke Windeln. Mit therapeutischen Methoden können sie außerdem helfen, schwierige Fragen anzusprechen, die man sich sonst eher nicht zutraut. 

Der Input, den sie in jeder Sitzung mitbringen, kann sich zum Beispiel um die Frage drehen, was man mit den Sachen des Kindes machen soll. Das sei für viele ein großes Thema. Was bewahrt man auf – was nicht? Woran hängen viele Erinnerungen, und was fange ich damit an? Aber auch die Beziehung zum Rest der Welt kann Thema werden – wenn für alle anderen das Leben weitergeht und man sich selbst damit nicht mehr so recht verbunden fühlt. 

Immer wieder von den Erlebnissen zu erzählen, ist zu belastend

Anders läuft die erste Sitzung ab. Darin lernen sich die Teilnehmenden kennen. Zuerst tauschen sie sich zu zweit aus, danach stellen sie sich gegenseitig in der Runde vor. Nicht direkt vor der ganzen Gruppe über sich sprechen zu müssen, macht es besonders am Anfang leichter, den Tod der Kinder zu thematisieren. Die Umstände, unter denen die Kinder der Eltern in der Gruppe gestorben sind, können ganz unterschiedlich sein – Krankheit, Suizid, Unfall oder eine Gewalttat. Zumindest ein Mal wird darüber auch offen gesprochen. Wichtig ist aber, dass die Betroffenen nicht immer und immer wieder von ihren Erlebnissen erzählen, da dies zu belastend wäre. 

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Viele wünschen sich,
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ist nicht das
Hauptanliegen.

Von Traurigkeit und Schuldgefühlen  

Die Trauer und der Schmerz über den Verlust des eigenen Kindes ist sehr speziell. „Mit dem Kind betrauert man ein Stück Zukunft“, sagt Elke Windeln. „Mit dem Partner geht eher die Gegenwart verloren, bei den Eltern oder Großeltern stirbt ein Stück Vergangenheit.“ Ein Kind sei auf eine ganz bestimmte Art unersetzbar. Bei Eltern, die nur ein Kind hatten, werde der ganze Lebensentwurf auf den Kopf gestellt.

Zu der großen Traurigkeit kommen außerdem oft Schuldgefühle. „Ein Gedanke ist oft: Als Mutter oder Vater ist es doch meine Aufgabe, mein Kind zu schützen, und ich habe es nicht geschafft“, sagt Ulrike Wewer, „auch wenn man gar nichts hätte tun können.“ „Viele wünschen sich, dass wir ihnen sagen, was sie machen sollen, damit es besser wird. Aber das ist nicht das Hauptanliegen. Vielmehr ermöglicht die Gruppe den Teilnehmenden, es im Laufe der Zeit selbst herauszufinden und auch zu erleben. Etwa indem sie es überhaupt schaffen, sich auf den Weg zur Gruppensitzung zu machen. Oder sich dort mit anderen Elternteilen austauschen. Auch mit welchen, bei denen der Verlust länger zurückliegt als bei ihnen. Oder indem sie eigene Stärken wiederentdecken und verstehen, wie sie selbst den anderen Gruppenteilnehmer*innen helfen können. 

Eine Erkenntnis, die die beiden Leiterinnen selbst im Laufe der Jahre gewonnen haben: Einen perfekten Abschied gibt es nicht. Deshalb sollte man nicht zu viele Erwartungen und Idealvorstellungen haben. Aber auch: Selbst wenn es nicht möglich war, sich in Ruhe zu verabschieden, weil alles so schnell ging oder weil die Umstände so schwierig waren, kann es trotzdem mit der Zeit leichter werden. „Abschied bedeutet, einander noch einmal nahezukommen, sich zu verabschieden und dann zu gehen, und sei es in Gedanken“, sagt Ulrike Wewer. Wichtig sei, für sich eine Form dafür zu finden, die zu einem passt.