Daria Satska war zu Beginn des Krieges in der Ukraine zu einer Freundin nach Deutschland geflüchtet. Nach mehr als einem Jahr kehrte sie in ihre Heimatstadt Kyjiw zurück – und fühlt sich jetzt weniger machtlos.
Text und Fotos: Daniela Prugger
In der Tiefgarage in Kyjiw, in der Daria Satska und ihre Nachbarn in den ersten Kriegstagen ausharrten, parken nun wieder die PKWs der Anrainer. In schnellen Schritten geht die junge Frau an den Schildern vorbei, auf denen das ukrainische Wort für Schutzraum steht. Vor einem weißen SUV bleibt sie stehen. „Hier in dieser Parklücke haben wir drei Nächte in einem Auto geschlafen“, sagt die 24-Jährige und erinnert sich an den Tag zurück, als Russland die Ukraine überfiel und den größten Krieg in Europa seit Jahrzehnten auslöste.
Sie sucht auf ihrem Smartphone nach Fotos, scrollt durch die Alben, die nach Monaten sortiert sind, einige schöne Momentaufnahmen mit Freunden und Familie, dann wieder Bilder der Zerstörung. „Ich bin mir vorgekommen wie in einem apokalyptischen Film. Es war niemand mehr auf der Straße, man hat nur die Sirenen gehört“, sagt Satska und erzählt, dass ihr das beklemmende Gefühl noch immer in den Knochen steckt: die Angst vor dem, was als Nächstes kommt, die Februarkälte in der zugigen Parkgarage, der Schlafmangel. „Diese ersten Tage haben sich wie eine Ewigkeit angefühlt“, sagt sie.
Von Kyjiw nach Berlin
Mit der sich zuspitzenden Nachrichtenlage reifte bei Satska, so wie bei vielen anderen auch, der Entschluss, die Stadt zu verlassen. Mit einigen Freunden und Verwandten nahm sie einen überfüllten Zug von Kyjiw in die Westukraine und dann weiter nach Deutschland. Nahezu sechs Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine sind mittlerweile laut aktuellen Daten von UNHCR in Europa registriert. Die Fluchtbewegung ist laut der Organisation eine der größten seit dem Zweiten Weltkrieg.
Satska kam zunächst in Berlin bei einer Freundin unter, später bei einem Mann in Ahrensburg bei Hamburg, dessen Kontakt sie über die Website „Host4Ukraine“ fand. „Es war ein seltsames Gefühl, in Deutschland anzukommen – es war, wie wenn man auf einem anderen Planeten landet“, erinnert sie sich. „Wenn man im Ausland ist, liest man die schlechten und schockierenden Nachrichten, aber man versteht sie nicht. Erst wenn man hier ist, fühlt sich das alles real an.“
Ein Gefühl der Machtlosigkeit
Als sie im Mai vergangenen Jahres ein Jobangebot bei einer internationalen Organisation in der Ukraine erhielt, buchte sie den nächsten Direktbus nach Lwiw. „Nachdem sich die Kämpfe in den Osten und Süden verlagert haben, bin ich nach Kyjiw zurückgekommen“, sagt sie. „Der Krieg ist zwar noch immer nicht vorbei, aber hier bin ich entspannter als in Europa, weil ich mich dort so weit weg und machtlos gefühlt habe. Wenn ich in Kyjiw bin, bin ich näher bei meiner Familie und kann im Notfall zu ihnen fahren.“
So wie viele andere auch habe Satska nie vorgehabt in Deutschland zu bleiben. Im Februar 2023 schätzte die Internationale Organisation für Migration (IOM) die Zahl der Rückkehrer auf etwa 5,5 Millionen Menschen. Es ist eine Rückkehr ins Ungewisse, in ein Land und eine Gesellschaft, durch die sich die Spuren des Krieges ziehen. Laut einer aktuellen Umfrage kennen heute fast 40 Prozent der Ukrainer*innen jemanden aus der Bevölkerung, der durch Russlands Krieg getötet oder verwundet wurde.
Im achten Stock eines Wohnblocks schließt Satska die Tür zu ihrer Zweizimmerwohnung auf. Sie wohnt am linken Flussufer des Dnipro, der durch die Hauptstadt fließt und weiter südlich in der Region Saporischschja den Verlauf der Frontlinie markiert. An Satskas Schlüsselbund baumelt ein Anhänger mit dem Landeswappen von Hamburg, das sie als Souvenir mit nach Hause gebracht hat. „Ich trage den Anhänger als Symbol für meine Dankbarkeit gegenüber den Menschen in Deutschland“, erklärt sie.
In der Küche holt ihre Mutter Liudmyla Gebäck aus dem Ofen und holt Tassen für den Tee aus einem der Schränke. Sie sei kurzfristig zu Besuch aus Odessa am Schwarzen Meer gekommen, das in den vergangenen Monaten zahlreiche Luftangriffe erlebt hat. Dutzende Zivilisten sind dabei allein in diesem Jahr ums Leben gekommen. Ende Juli wurde durch einen russischen Luftangriff auch die Verklärungskathedrale in der Altstadt beschädigt, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
Der reinste Albtraum
„Es war der reinste Albtraum, und sie hören nicht mit den Angriffen auf“, sagt die 47-Jährige. Dazu komme ihre Angst als Mutter, ständig um die Sicherheit ihrer Tochter zu bangen. Trotzdem sind sich beide einig, dass die Rückkehr in die Ukraine die richtige Entscheidung war. Selbst wenn nun ein weiterer harter Herbst und Winter voller Stromausfälle bevorstehen könnte. Daria Satska erzählt von den dunklen Monaten, in denen der Aufzug in ihrem Wohnhaus nicht funktionierte, sie bei Kerzenlicht aß und hin und wieder kein fließendes Wasser in der Wohnung hatte. Vorsorglich steht neben der Tür eine neu gekaufte Powerstation, über die sie bei künftigen Blackouts ihre elektronischen Geräte aufladen wird.
Im Schlafzimmer neben dem Bett weitere Maßnahmen für den Ernstfall: Unterhalb des Fensterbretts lehnt eine Matratze. „Fast den ganzen Mai über habe ich auf dem Boden geschlafen, damals waren die Luftangriffe auf Kyjiw permanent“, erklärt Satska. Wenn es in Kyjiw Luftangriffe gibt, flüchte sie nicht immer in die Tiefgarage. Manchmal schlafe sie im Badezimmer oder im Hausflur, wo es keine Fenster gibt, die bei Explosionen zerspringen können, erklärt Satska. „Insgesamt waren es sicher 50 Nächte in diesem Jahr, die ich auf der Matratze verbracht habe“, schätzt sie.
Eine neue Zeitrechnung
In Kyjiw fühlen sich die Bewohner*innen aufgrund des Patriot-Flugabwehrsystems mittlerweile sicherer als vorher. Die größte Gefahr bei Luftangriffen geht von den beim Abschuss herabfallenden Trümmern aus, die Häuser beschädigen und Brände auslösen. Schlimmer als in Kyjiw sei die Lage in Saporischschja. Dort, unweit des von den Russen besetzten AKWs, ist Daria Satska aufgewachsen. „Die Stadt wird beinahe täglich beschossen, und es ist furchtbar, ständig diese Bilder und Nachrichten über die Zerstörung zu sehen“, sagt sie. Aufgrund des Krieges werden landesweit im Jahr 2023 Schätzungen von UNHCR zufolge 17,6 Millionen Menschen humanitäre Hilfe benötigen. Die langfristigen Folgen können derweil noch gar nicht abgeschätzt werden.
Der Krieg hat in der Ukraine eine neue Zeitrechnung eingeleitet. Es gibt ein Leben vor dem 24. Februar 2022 und ein Leben danach. Daria Satska sagt, dass sie im Zeichen des Widerstands von ihrer Muttersprache Russisch ins Ukrainische gewechselt hat. Sie erzählt, dass sie schneller erwachsen werden musste, als es ihr lieb war. Ihre Einstellung habe sich verändert, man könne es auch Pragmatismus nennen, sagt sie: „Ich denke mir mittlerweile: Wenn ich körperlich gesund bin, meine Familie und Freunde am Leben sind und ich ein Dach über dem Kopf habe, dann ist doch eigentlich alles in Ordnung.“