Gespräch: Kira Küster, Foto: Adam Jang auf Unsplash
Mit gezielten Angriffen werden Menschen, die sich im Internet für andere einsetzen, mundtot gemacht. Die Menschenrechtsorganisation HateAid unterstützt Betroffene, die im Netz Hass und Gewalt ausgesetzt sind. Ein Interview mit Geschäftsführerin Anna-Lena von Hodenberg.
Sie haben 2018 HateAid gegründet, um Betroffenen von digitaler Gewalt zur Seite zu stehen. Was war der Auslöser?
Kurz vor der Bundestagswahl 2016 habe ich erstmals erlebt, wie rechte Gruppierungen mit Tausenden gefälschter Accounts in den sozialen Medien Personen des öffentlichen Lebens an den Pranger gestellt haben. Diese 7.000 Menschen haben ganz gezielt politische Gegner*innen angegriffen: Sie haben persönliche Informationen und schlimmste Lügen über sie verbreitet, um sie so lange unter Druck zu setzen und zu bedrohen, bis diese Leute still geworden sind. Dass sich 7.000 Leute so gut organisieren können und dass das so leicht funktioniert, hat mich schockiert. Mir wurde klar, dass man das ab einem bestimmten Punkt nicht mehr aufhalten kann und wir jetzt etwas tun müssen.
Wie haben Sie sich engagiert?
Ich habe versucht, Menschen in meinem Umfeld für das Thema zu gewinnen. Am Anfang hatten wir natürlich überhaupt keine Lösungen. Uns war zuerst einmal die Solidarität mit den Betroffenen wichtig. Sie brauchten Unterstützung: Die Polizei schickte sie nach Hause, das Bearbeiten von Anzeigen wurde eingestellt. Die Betroffenen hatten das Gefühl, der Rechtsstaat ließe sie allein und andere Beratungsstrukturen könnten sie nicht ausreichend unterstützen.
Was ist das Ziel von HateAid?
Wir wollen die Menschen, die sich im Internet engagieren, so unterstützen, dass es ihnen weiterhin möglich ist, sich zu engagieren. Wir können den Menschen zwar nicht versprechen, dass sie keine digitale Gewalt mehr erleben, aber wir können sie darauf vorbereiten, wir können Hass abfedern und sie in einer Gewalterfahrung begleiten. Und wir können den Rechtsstaat in die Pflicht nehmen: Denn was im analogen Leben illegal ist, ist es auch im digitalen Raum. Sie wissen ja selbst, wenn Sie ins Internet und auf die sozialen Medien schauen: Der größte Teil der Menschen in den sozialen Medien konsumiert Inhalte eher passiv. Nur ein ganz kleiner Teil der Nutzer*innen ist aktiv und produziert eigenen Content. Wenn nun diejenigen wegbrechen, die für Demokratie, für eine offene und freie Gesellschaft stehen, dann bleiben nur noch diejenigen übrig, die Lügen verbreiten und manipulieren. Sie dominieren dann die Debatte. Das hat auch Auswirkungen auf all diejenigen, die still mitlesen. Wenn es keine öffentliche, demokratische Debatte gibt, weil sich die Menschen im Internet nicht mehr trauen, ihre Meinung zu vertreten und sich für Dinge zu engagieren, dann ist das eine Gefahr.
Anna-Lena von Hodenberg ist gelernte Journalistin und arbeitete u. a. für RTL und den NDR. 2020 wurde sie mit dem Digital Female Leader Award ausgezeichnet, 2021 von der Zeitschrift „Capital“ zu den „Top 40 unter 40“ gekürt und zum „Ashoka Fellow“ berufen. Der Grund: HateAid.
2018 gründete Anna-Lena von Hodenberg gemeinsam mit Campact e. V., Fearless Democracy e. V. und einem gegen rechte Gewalt engagierten Volljuristen die HateAid gGmbH. Die von ihr geführte gemeinnützige Organisation setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein. Ihr Ziel: das Netz zu einem positiven Ort zu machen, in dem demokratische Werte für alle gelten.
Wer sind die Betroffenen von digitaler Gewalt?
Soziale Medien werden immer wieder genutzt – auch sehr gezielt und organisiert –, um Menschen zum Schweigen zu bringen. Dann haben sie das Potenzial, zu einer Propagandamaschine und damit eben auch zu einer Hassmaschine zu werden. Menschen stehen dann nicht mehr auf und setzen sich für die Gesellschaft ein. Ihnen wird erzählt, dass es sich auch gar nicht mehr lohnt, dass man sowieso nur betrogen wird und dass man kein Vertrauen mehr in die Demokratie haben kann. Deshalb stehen Politiker*innen, Journalist* innen und Aktivist*innen auch unter digitalem Beschuss. Bei mir in der Beratung sitzen auch viele Wissenschaftler* innen. Die Glaubwürdigkeit dieser Gruppen wird gezielt angegriffen.
Gibt es denn verschiedene Arten von digitaler Gewalt?
Ja, auf jeden Fall. Die Spannweite ist riesengroß und vergrößert sich weiter. Zu Beginn unserer Arbeit haben wir noch von Hatespeech gesprochen. Irgendwann haben wir damit aufgehört und von digitaler Gewalt gesprochen, weil es nicht länger nur um Rede ging. Beim Doxing wird zum Beispiel Ihre Privatadresse oder Telefonnummer veröffentlicht oder die Adresse der Schule Ihrer Kinder. Zu digitaler Gewalt gehört auch die Spyware, die Ihr Kollege, den Sie zurückgewiesen haben, auf Ihrem Handy installiert hat. Das passiert fast nur Frauen. Vergewaltigungsandrohungen, Morddrohungen, Beleidigungen in unterschiedlichen Formen, bei Frauen oftmals sexualisierte Angriffe, sind weitere Formen digitaler Gewalt. Wenn die Nutzer*innen ein anderes Diskriminierungsmerkmal oder mehrere haben, dann zählen dazu natürlich auch rassistische Anfeindungen, Anfeindungen gegen die queere Community oder antisemitischer Hass. Dazu gehören auch die Volksverhetzung, etwa wenn der Holocaust geleugnet wird, das Zeigen von verfassungsfeindlichen Symbolen und verhetzende Beleidigungen. Das ist übrigens ein neuer Straftatbestand, der eine Schutzlücke zwischen der Volksverhetzung und der Beleidigung geschlossen hat. Was wir im Moment gehäuft sehen, sind pornografische Deepfakes von Frauen. Aktuell gibt es unzählige Deepfakes von Taylor Swift, aber auch Annalena Baerbock und Ursula von der Leyen waren schon von Deepfakes betroffen. Sie brauchen nur den Namen einer bekannten Politikerin der Spitzenparteien und den Begriff „Deepfake Porno“ bei Google eingeben, dann werden sie schnell fündig. Übrigens: Deepfake-Pornos von Frauen sind schnell zu finden, solche von Männern gar nicht, weil sie so gut wie gar nicht existieren.
Opportunist*innen sind nicht organisiert, sie trauen sich einfach nur, ihre diskriminierenden Ressentiments rauszulassen, wenn bereits eine rote Linie überschritten wurde.
Sie sagten, dass engagierte Menschen aus der Zivilgesellschaft häufig von digitaler Gewalt be- troffen sind. Was wissen Sie über die Täter*innen?
Unser Wissen ist nur fragmentarisch, weil es keine umfassenden Täterstudien gibt und nur ein ganz kleiner Teil der Täter*innen angezeigt wird. Auf der anderen Seite gibt es organisierte Gruppen aus unterschiedlichen Milieus, die einen Angriff auf eine Person starten. Sobald eine kritische Masse an Leuten erreicht ist, die unter dem Post der Person Hasskommentare geschrieben haben, nimmt der Algorithmus der sozialen Medien das auf und zeigt sie noch mehr Leuten an. Die Hasskommentare werden von den ganzen Opportunisten gesehen, die dann denken: „Ach guck mal, da sind ja schon so viele Hasskommentare. Ich hatte heute auch einen schlechten Tag.“ Sie laden dann ebenfalls ihren Frust im Netz ab.
Wer sind diese Opportunist*innen?
Rassistische, antisemitische, frauenfeindliche oder antidemokratische Aussagen sind auch in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet. Viele denken: „Wenn das alle so schreiben, dann kann ich das ja auch mal machen.“ Opportunist* innen sind nicht organisiert, sie trauen sich einfach nur, ihre diskriminierenden Ressentiments rauszulassen, wenn bereits eine rote Linie überschritten wurde. Den Brand legen andere? Ja, vor allem organisierte rechtsextreme Gruppen, aber auch Gruppen aus dem Feld der antifeministischen Bewegung wie die Incels, Pick up Artists, Men Going Their Own Way. Die Incels sind laut Studien die am stärksten wachsende und gewaltbereiteste frauenfeindliche Gruppe im Netz. Bei den Gruppen gibt es aber auch Milieu-Überschneidungen. Zum Rechtsextremismus gehört ebenfalls die Frauenfeindlichkeit. Dann gibt es das ganze verschwörungsideologische Milieu, also Gruppen wie zum Beispiel QAnon. Sie haben oft einen antisemitischen Kern. Ihnen geht es um eine Elite, die vermeintlich Geld habe und uns beherrschen wolle. Hier werden alte antisemitische Bilder heraufbeschworen, ohne dass man explizit sagt, dass es um Jüd*innen geht. Linksextreme Gruppen sehen wir hier bislang weniger. Das zeigt auch die BKA-Statistik zur politisch motivierten Kriminalität. Und dann gibt es Gruppen zu bestimmten Themen: Während der Corona-Krise gab es die Corona- Leugner*innen und das ganze Anti-Vax-Movement, das sich sehr gut organisiert hatte – vor allem bei Telegram. Man kann generell sagen: Wenn Sie im Internet Angriffe sehen auf Personen mit Tausenden von Hasskommentaren, können Sie davon ausgehen, dass das organisiert wurde. Das sind keine spontanen Volksausbrüche, wie man lange Zeit angenommen hat.
Zeigen das auch Ihre Erfahrungen?
Wir haben selbst Analysen von Angriffen auf Personen des öffentlichen Lebens, etwa Politiker*innen, durchgeführt. Wenn man die Angriffe zurückverfolgt, sieht man oft, dass der Name der Person irgendwann in einer rechtsextremen oder antifeministischen Telegram-Gruppe aufgetaucht ist. Da musste niemand mehr dazuschreiben: „Geht jetzt mal auf das Profil und hinterlasst einen Hass-Kommentar“, sondern die Mitglieder wissen dann Bescheid, was sie zu tun haben. Das nennt man Dog Whistling. Die Mitglieder der Gruppe gehen dann auf die sichtbaren Profile bei Facebook oder X, damit alle sehen können, was die Konsequenz ist, wenn man etwas Bestimmtes tut. Für diese Gruppen ist es enorm wichtig, dass die Gewalt für uns alle sichtbar ist. Damit wir lernen, was uns passiert, wenn wir uns im Netz für Zivilcourage, gegen Rassismus und für die Demokratie einsetzen. Sie wollen uns vom demokratischen Engagement abschrecken.
Wenn diejenigen wegbrechen, die für eine offene und freie Gesellschaft stehen, bleiben nur noch diejenigen übrig, die Lügen verbreiten und manipulieren. Sie dominieren dann die Debatte.
Wie helfen Sie konkret?
Wir arbeiten auf drei Ebenen. Zuerst bieten wir eine emotionalstabilisierende Erstberatung an, wenn das gewünscht ist. Das heißt, wir helfen dabei, dass die Betroffenen sich ihre Situation erst einmal auf emotionaler Ebene anschauen und einsortieren, um wieder handlungsfähig zu werden – weil viele in der Situation erstarren oder in Panik sind. Wichtig ist oft, dass man das mit Menschen macht, die nicht zum privaten Umfeld gehören, weil man sich dann anders zeigen kann. Als Nächstes machen wir dann eine Sicherheitsberatung. Das heißt, wir schauen, welche privaten Daten es von der betroffenen Person im Internet gibt, die sie vulnerabel machen könnten. Als Drittes unterstützen wir bei der Beweissicherung: Wir erstellen rechtssichere Screenshots oder helfen den Betroffenen dabei, diese selbst zu erstellen. Wir zeigen die Vergehen mit unseren Klient*innen bei der spezialisierten Staatsanwaltschaft in Hessen an. Und wenn man zivilrechtlich gegen die Täter*innen vorgehen kann, unterstützen wir in geeigneten Fällen mit unserem Prozesskosten-Finanzierungsfonds, damit die Betroffenen kein Kostenrisiko eingehen müssen. Wir unterstützen die Betroffenen dann, vor Gericht zu gehen mit spezialisierten Kanzleien und erwirken im besten Fall einen Unterlassungstitel oder auch Schadensersatz.
Wie vielen Klient*innen haben Sie denn seit Gründung von HateAid geholfen?
Knapp 4.500. Die Anzahl der Anfragen geht seit unserer Gründung steil nach oben. Sie hat einen Sprung gemacht während der Corona-Krise, sie hat noch mal einen Sprung gemacht im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Sie macht in Krisen Sprünge. Und je bekannter wir werden, desto mehr Menschen wenden sich an uns. Was meinen Sie:
Was könnte helfen, die Gewalt im Netz zurückzudrängen?
Wie bei allen komplexen Dingen gibt es nicht die EINE Antwort, nicht das EINE Rezept. Digitale Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, die Gründe dafür sind vielfältig, und genauso vielfältig müssen auch die Antworten sein. Es braucht ein Maßnahmenpaket, für das einerseits die Politik gefragt ist und andererseits die Plattformen. Die Plattformen müssen konsequent reguliert werden, denn sie verdienen auch Geld mit Hass und Desinformation. Es bedarf nicht nur eines konsequenten Löschens von illegalen Inhalten auf den Plattformen, sondern das, was wir fordern, ist das sogenannte Safety by Design, das heißt: Schon beim Design der Plattformen müssen Sicherheitsmaßnahmen integriert werden.
Was bedeutet das genau?
Wir fordern, dass auf den Plattformen getestet wird, was Dinge sein könnten, die Risiken für unsere Demokratie und für einzelne vulnerable Gruppen darstellen. Die Plattformen müssen so umgebaut werden, dass Hass nicht gefördert wird, so wie das die Algorithmen momentan machen, sondern dass man Hass und Desinformationen verhindert. Hier ist die Politik gefragt, viel mutiger zu sein, um die Plattformen zu regulieren. Mit dem Digital Services Act, der jetzt in Kraft getreten ist, ist ein erster Schritt getan. Aber er ist überhaupt nicht weitreichend genug. Die Plattformen wollen nämlich selten Verantwortung übernehmen für die ganzen Inhalte, die bei ihnen hochgeladen werden. Wir brauchen dazu gar nicht viel mehr neue Ge-setze. Was wir brauchen, ist eine bessere Rechtsdurchsetzung: Die Verfahren müssen schneller, günstiger und einfacher werden.
Was können wir als Gesellschaft tun?
Wir als Teil der Gesellschaft müssen uns darüber klar werden, dass wir auch Bürger*innen im digitalen Raum sind. Wir sind dort genauso Bürger*innen, wie wenn wir auf die Straße gehen. Wenn wir dort sehen, dass jemand angegriffen wird, gehen wir doch auch hin und unterstützen. Wir zeigen Zivilcourage und rufen die Polizei. Im Internet klicken wir einfach weiter. Aber genau die gleiche Zivilcourage sollten wir auch im digitalen Raum zeigen. Uns als Gesellschaft muss klar werden, dass wir auch im digitalen Raum Rechte haben und dass wir diese Rechte durchsetzen müssen, denn wenn wir sie dort nicht durchsetzen, dann werden sie auch in unserem analogen Leben infrage gestellt. Das Internet ist so ein wichtiger Raum in unserem Leben. Wenn wir zulassen, dass dort die roten Linien überschritten werden, kommen Hass, Gewalt und Desinformation in unser alltägliches Leben. Wir sollten uns das Internet zurückholen, denn es ist unser Internet, und wir als Gesellschaft sollten bestimmen, wie es aussieht.
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