Verlässliche Betreuung statt Notbetrieb  

Warum es höchste Zeit ist, in den Krisenmodus zu schalten

"Unser Interesse ist, das Allerbeste für die Kinder zu tun" 

Gespräch: Anne Wolf, Foto: Violetta Odenthal 

Wenn nicht genügend Fachkräfte vor Ort sind, müssen Kitas kurzfristig schließen,  selbst wenn ausreichend Ergänzungskräfte vor Ort sind. So sieht es die Personalverordnung  des Landes NRW vor.* Michael Schmidt, Vorstand der Diakonie Düsseldorf,  sieht dadurch die Qualität der frühkindlichen Bildung in Gefahr. Im Interview erklärt er,  warum es wichtig ist, Eltern feste Betreuungszeiten anzubieten, und es höchste Zeit  ist, in den Krisenmodus zu schalten.  

Lieber Herr Schmidt, Mitte des Jahres haben Sie öffentlich Alarm geschlagen und gefordert, dringend etwas gegen den Betreuungsnotstand in den Kitas  zu tun. Das sorgte auch für Kritik. Wie lautete Ihre Forderung konkret?
 

Schmidt: Wir fordern zuerst einmal, dass alle Beteiligten sich eingestehen, dass wir eine krisenhafte Situation haben. Das ist deshalb wichtig, weil man in der Krise anders reagiert als in Veränderungs- oder Change-Prozessen, in denen man sich Zeit nehmen kann. In der Krise muss man sofort handeln. Aus unserer Sicht würde das bedeuten, dass wir den sehr starren Betreuungsschlüssel in Hinblick auf die Fachkraftquote vorübergehend lockern und mit Augenmaß dafür sorgen, dass auch die langjährig erfahrenen Kinderpfleger* innen oder Ergänzungskräfte, die wir in den Kitas haben, im Beisein einer Erzieherin selbstständig eine Gruppe betreuen können. Das gilt besonders für Randzeiten: morgens, bevor alle an Bord sind, oder nachmittags, wenn noch nicht alle Kinder abgeholt worden sind. Frühkindliche Entwicklung ist eine besondere Phase, gerade auch um die Schulfähigkeit herzustellen, also auch eine Integrationsleistung. Aber wenn wir in der Krise keine gesicherten Betreuungszeiten haben, können wir diese Ziele nicht ernsthaft verfolgen.

Selbst bei einer Lockerung der Personalverodnung bleibt aber ein grundlegendes Problem bestehen: der Fachkräftemangel.
 

Schmidt: Wie wir künftig mit dieser Herausforderung umgehen, ist eine Diskussion, die wir parallel führen müssen. Aktuell fehlen uns etwa 100 Vollzeitkräfte im Kita-Bereich. Wenn wir hier Abhilfe schaffen wollen, müssen wir in den nächsten drei oder vier Jahren jedes Jahr 60 Menschen ausbilden. Parallel gehen die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, reihenweise in Rente. Hinzu kommt, dass der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz im Grundschulalter – also bei den Offenen Ganztagsschulen – diese Personalnot noch verstärken wird, weil dort dieselben Berufsgruppen gebraucht werden. Insofern wird es eine steigende Nachfrage in einem Mangelberuf geben. Dafür gibt es keine Patentlösung. Wichtig ist, dass wir überhaupt miteinander ins Gespräch kommen und eine Perspektive „Berufsbild 2030“ entwickeln.

Öffentlicher Dienst, Industrie und Handwerk suchen ebenfalls händeringend Leute.
 

Schmidt: Wir konkurrieren alle um die gleiche Gruppe der Auszubildenden. Deshalb sind die verstärkten Webemaßnahmen, die wir derzeit fahren, auch nur der Versuch, von einem gleich kleinen Kuchen ein möglichst großes Stück abzubekommen. Politik müsste aber dafür sorgen, dass der Kuchen größer wird, also dass insgesamt mehr Menschen für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Das würde bedeuten: Wir brauchen mehr ausländische Fachkräfte. Im Moment scheint diese Forderung nicht sehr populär zu sein.


Schmidt: Da gibt es doppelte Botschaften. Auf der einen Seite zieht der Bundeskanzler derzeit alle Register, um Anwerbeabkommen für Fachkräfte zu schließen, das macht er in Afrika, das macht er in Asien. In der Hoffnung, dass auf Basis dieser Vereinbarungen Menschen nach Deutschland kommen, die schon einen Beruf können. Klammer auf: In den sozialen Berufen ist das natürlich schwierig, weil hier Sprache ein besonderes Element ist. In der frühkindlichen Bildung, aber eben auch in der Pflege im Alter brauchen wir Menschen, die sich verständigen können. Das geht also beispielsweise mit Menschen, die schon im Heimatland Deutsch gelernt haben, ist aber insgesamt nur begrenzt hilfreich. Das andere ist, dass über diese aus meiner Sicht vollkommen überzogene und paranoide Migrationsdebatte zur Verhinderung von angeblich illegaler Einwanderung ein fast ausländerfeindliches, aber mindestens ausländerskeptisches Klima in diesem Land geschaffen wird. Das wird dazu führen, dass die Anwerbeabkommen für die Tonne sind. Wer bricht schon die Zelte in seinem Heimatland ab, um sich in Deutschland eine neue Zukunft aufzubauen, wenn er gleichzeitig in den Nachrichten sieht, wie hier Menschen anderer Hautfarbe, andere Nationalität, anderer Religionen oder anderer Kulturen abgewertet und ausgegrenzt werden.

Dieses Narrativ bedienen derzeit aber mehr oder weniger alle große Parteien.
 

Und spielen damit der AfD in die Hände. Wichtig wäre stattdessen, einen deutlichen Kontrapunkt zu setzen und zu sagen: Ohne diese Menschen können wir in unserem Land zukünftig nicht mehr vernünftig existieren. Wir müssten in unseren Pflegeheimen bei der Diakonie den Betrieb einstellen, wenn wir alle Menschen mit Migrationshintergrund wegdenken würden. In der Kita ist das nicht ganz so, weil wir in der Kita langjährig Beschäftigte haben und die Öffnung für Menschen mit Migrationshintergrund sehr langsam stattfindet. Aber an ganz vielen anderen Stellen können wir das nicht mehr. Eine geordnete Zuwanderung ist hier die einzige Lösung.
 

Ihre Forderung nach einer Lockerung der Fachkraftquote wurde von einigen Seiten kritisiert. Was sagen Sie Ihren Kritikern? 


Schmidt: Es gibt ein neues Wort, das heißt: sich ehrlich machen. Wenn wir doch mal ehrlich sind, dann ist eine Kita, die immer nur im Notbetrieb ist, die Kinder nach Hause schicken muss, für die frühkindliche Bildung und für Eltern, die Familie und Beruf in Einklang bringen müssen, schädlicher als der Einsatz von langjährig erfahrenen, allerdings nicht dreijährig qualifizierten Mitarbeitenden. Ich finde das gehört auch dazu, sich ehrlich zu machen, zu fragen: Was schadet denn der frühkindlichen Bildung am meisten? Und wenn man den Aufruf der Wissenschaftler*innen betrachtet, der gerade durch die Medien gegangen ist, dann ist das auch deren Botschaft: Wichtig ist eine verlässliche Betreuung. Weil wir alle wissen, dass das Elternhaus das nicht immer leisten kann, wenn beide arbeiten müssen und die Situation sozial schwierig ist. Unser Interesse ist, das Allerbeste für die Kinder zu tun.  

*Das Interview haben wir Anfang November geführt. Kurz vor dem Redaktionsschluss hat uns die Nachricht erreicht, dass das Land NRW einen Entwurf zur Überarbeitung der Personalverordnung vorgelegt hat. Dieser beinhaltet auch einen Teil der von der Diakonie in diesem Interview aufgestellten Forderungen.

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