Hat Nächstenliebe Grenzen? 

NRW-Innenminister Herbert Reul und Diakonie RWL-Vorstand Christian Heine-Göttelmann im Dialog-Interview

Der AfD nicht in die Karten spielen

Gespräch Christoph Wand und Anne Wolf, Fotos: Violetta Odenthal

Nach dem Terroranschlag von Solingen fordern manche, Deutschland müsse sich gegen Zuwanderung abschotten. Kennt Nächstenliebe Grenzen? Wir haben mit NRWs Innenminister Herbert Reul und Christian Heine-Göttelmann, Vorstand der Diakonie RWL, gesprochen.

Herr Heine-Göttelmann, Herr Reul, kennt Nächstenliebe Grenzen? 
 

Heine-Göttelmann Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das bedeutet, dass Menschen nach diesem Grundsatz behandelt werden müssen, auch dann, wenn sie beispielsweise abgeschoben werden.

Reul Nächstenliebe ist grenzenlos. Im konkreten Einzelfall muss man aber auch gegen andere Güter abwägen, zum Beispiel bei der Migration. Da geht es nicht allein darum, ob ich mich aus Nächstenliebe um diese Menschen zu kümmern habe. Selbstverständlich habe ich das. Nur muss ich auch die Folgen bedenken. Denn wenn als Ergebnis einer unkontrollierten Migration eine rechtsextreme Bewegung entsteht, wenn 70 Prozent der Menschen sagen, ich kann mit dem Staat nichts mehr anfangen, dann ist das für mich eine Alarmmeldung.

Nach dem mutmaßlich islamistischen Terroranschlag von Solingen, bei dem drei Menschen ums Leben kamen, haben Sie beide für eine Versachlichung der Debatte geworben. Ist Ihnen das gelungen?
 

Reul Das gelingt nur sehr begrenzt. Die Menschen sind, wie sie sind. Ich versuche Probleme, die da sind, zu benennen und nicht zu verschweigen, weil ich glaube, dass das hilft, die Debatte zu versachlichen. Ich habe zum Beispiel sehr lange mit mir gerungen, bis ich die Statistik über nichtdeutsche Straftäter veröffentlicht habe, weil ich ahnte, dass das der AfD in die Karten spielt. Aber ich wusste auch: Wenn du die Wahrheit sagst, hast du erstens eine Chance, dass die Menschen dir zuhören. Und zweitens kannst du differenziert argumentieren. Ein großer Teil dieser Straftaten wird nämlich gar nicht durch hier lebende Migranten begangen, sondern von Banden, die reinkommen, klauen, und wieder abhauen. Aber das muss man den Menschen erklären. Sonst gibt es nur große Schlagzeilen mit besorgniserregenden Zahlen.

Heine-Göttelmann Das ist eine schwierige Debatte. Herr Reul hat es angedeutet: Wie schnell schafft man mit solchen Aussagen Futter für die AfD? Man muss ganz klar sagen, dass es mehr Kontakt und Hilfestellungen für die Menschen in den Unterkünften braucht. Es ist ein Problem, wenn Aufenthaltszeiten in Landesunterkünften verlängert werden, wenn Menschen wegen fehlender Fachkräfte keine Deutschkurse besuchen können und Menschen sich so nicht in die Gesellschaft integrieren können. Wir müssen mehr für diese vulnerablen Gruppen und gegen Radikalisierung tun.

Wir müssen also wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen?
 

Reul Man muss Realitäten benennen, um nicht weitere Probleme entstehen zu lassen. Und zwar sowohl für die, die hier leben, als auch für die, die hier hinkommen, die mit Hunderten von Leuten in Unterkünften sitzen, oft junge Männer. Das kann nur schiefgehen – egal ob das Marokkaner, Chinesen, Amerikaner oder Deutsche sind. Und ich finde, wenn wir zulassen, dass daraus Unfrieden in der Gesellschaft entsteht, dann müssen wir einschreiten und eine Lösung suchen. Ich halte deshalb diese Debatte um Abschiebungen zwar für notwendig, aber andererseits für total überzogen, weil damit der Eindruck erweckt wird, dadurch könnte man das Problem lösen. Ich glaube, die ehrlichste, wirksamste Lösung ist, zu sagen: Wer kommt rein und wer kommt nicht rein? Die Bewertung und vor allem wie man das macht, ist natürlich sauschwer.

Heine-Göttelmann Wir versuchen dem zu begegnen, indem wir zum Beispiel Veranstaltungen zum Thema Demokratie anbieten. Denn wir wünschen uns eine Gesellschaft, die für Menschen, die hierherkommen und entweder Schutz oder eine dauerhafte Existenz suchen, offen bleibt – und keine Gesellschaft, die diesen Menschen ihre Probleme sozusagen unterschiebt. Im Moment wird wieder über Abschiebungen nach Syrien diskutiert, wo es Kampfhandlungen gibt, wo in einigen Landesteilen gefoltert wird. Abschiebungen in solche Länder sind nicht in Ordnung. Wir müssen schauen, dass wir als Gesellschaft offenherzig bleiben. Denn eins muss auch klar sein: Man darf nicht immer denken, dass die Menschen, die zu uns kommen, alle so werden müssen wie wir.

Die Landesregierung hat ein Sicherheitspaket auf den Weg gebracht, das stärkere Kontrollen an den Außengrenzen vorsieht. Was sind Ihre Erfahrungen? Führt das zu mehr Sicherheit?
 

Reul Die Kontrollen, für die die Bundespolizei zuständig ist und die deshalb nicht in meinen Bereich fallen, sind sporadisch. Sie sind ein Signal. Wir haben eine ganze Menge Leute erwischt, darunter auch Straftäter. Es gibt also konkrete Erfolge. Aber die wichtigste Wirkung ist, dass Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, die Politiker sehen die Probleme und kümmern sich. Und die Nachbarstaaten merken, sie müssen sich auch selbst kümmern. Vielleicht erreicht man damit wieder mehr Einigkeit in Europa.

Heine-Göttelmann Wir sprechen uns auch nicht gegen die innere Sicherheit aus, im Gegenteil. Aber wenn man sagt, wir machen ein Sicherheitspaket in Reaktion auf den politischen Druck, der gerade von der rechten Seite kommt, dann finden wir das bedenklich. Dass man sagt, dann erklären wir eben Staaten wie Afghanistan und Syrien zu sicheren Herkunftsstaaten, um entsprechend abschieben zu können. Denn als starker Rechtsstaat sind wir natürlich in der Lage, Menschen Schutz zu bieten, wenn sie diesen benötigen.

Müssen wir dann nicht eigentlich mehr Geld in die Hand nehmen für Integration?
 

Reul Wir müssen für alles mehr Geld in die Hand nehmen. Aber ich kann mir die Wirklichkeit nicht zurechtbiegen. Wir haben elf Milliarden jedes Jahr weniger, weil in Berlin Entscheidungen getroffen wurden. Dazu immer weniger Wirtschaftswachstum. So habe ich mir das, als wir vor zweieinhalb Jahren gestartet sind, nicht vorgestellt. Damals hatten wir eine ganz andere Idee. Jetzt müssen wir uns die Frage stellen, an welchen Stellen können wir sparen? Und dann wird es kompliziert. Aber es hilft nicht, nur zu klagen. Denn wenn man ordentlich nachdenkt, kann man an einigen Stellen das Geld schon noch klüger einsetzen als bisher. Indem man bei der Polizei zum Beispiel abgelegte Helme für die Ausbildung nutzt, anstatt immer neue zu kaufen. Oder indem man auf einen Anorak verzichtet, den die meisten Polizistinnen und Polizisten eh nicht tragen.

Heine-Göttelmann Eines fehlt mir in dieser Debatte: Unser Sozialstaat steht vor großen Herausforderungen. Diese können wir nur durch Umverteilung lösen. Das letzte Steuerpaket, das aus Berlin gekommen ist, ist ein Entlastungsgesetz. Dabei wissen alle: Wir brauchen stabile Staatsfinanzen. Natürlich sollen arme Menschen nicht stärker belastet werden. Aber wir wissen auch, dass wenige einzelne Menschen absurd hohe Vermögen haben. Der Sozialstaat muss von irgendetwas leben. Wir geben das Geld zielgerichtet zur Unterstützung von Menschen in sozialen Notlagen aus. Wir sind der Meinung, je mehr sich die Gesellschaft in Reich oder Arm spaltet, desto mehr braucht es einen Ausgleich.

Reul Also das mit der Steuerfrage, das ist kompliziert. Ich glaube nicht, dass diese einfache Rechnung aufgeht. Die Reichen werden schon stärker belastet und wenn man sie übertrieben belastet, dann verlagern die ihre Unternehmen woandershin. Man muss darüber reden, welche Einnahmen man braucht und wie man diese klug und effektiv nutzt. Ich wette, dass wir sie nicht überall effektiv nutzen. Bei der Polizei stelle ich jeden Tag fest, wo das geht, ohne dass die Welt zusammenbricht.

Kann man denn auch im Sozialen sparen, Herr Heine-Göttelmann?
 

Heine-Göttelmann Wir haben allen Ministerien angeboten, über Qualitätsstandards zu sprechen, das heißt natürlich auch über die Personalausstattung. Das Familienministerium hat das mit uns gemacht und wir haben uns dazu verständigt, welche Qualifikationen Menschen in den Kindertagesstätten brauchen. Tatsächlich wurde die Personalverordnung dieser Tage angepasst. Trotzdem muss man immer mitdenken, dass das Ganze Kinderbildungsgesetz heißt, und wenn man Bildung will, dann muss man qualifizierte Kräfte in den Kitas einsetzen. Schwierig finde ich, wenn die Politik sagt, wir kürzen und es wird schon keiner merken. Wir wissen, dass, wenn wie geplant 83 Millionen Euro bei der Freien Wohlfahrt gestrichen werden, Einrichtungen bei uns zumachen werden. Es werden Einrichtungen der Straffälligen- und Suchthilfe sein, es werden Schuldnerberatungsstellen sein, es wird die Asylverfahrensberatung sein, in der wir Prävention in Form von Beratung machen. Das sind sehr kleine Strukturen, die zum Teil nur mithilfe von Ehrenamtlichen laufen. Und wenn wir die jetzt zumachen, können wir sie in zwei Jahren nicht einfach so wieder aufbauen.

Um noch einmal auf Solingen zurückzukommen und was das mit der Stimmung im Land gemacht hat. Wir haben mit Geflüchteten gesprochen und diese hatten den Eindruck, dass sie plötzlich Sündenböcke für alles sind, was schiefläuft. Wie kann man da gegensteuern?
 

Reul Ich habe gelernt, Fragen zu stellen, und Probleme, die da sind, dann auch zu benennen, um differenziert argumentieren zu können. Das ist anstrengend und da hört auch nicht jeder zu. Aber nur so geht es. Alles andere bedient lediglich die Stimmung des Tages.

Heine-Göttelmann Ich erlebe in Deutschland eine Stimmung, die mich sehr nachdenklich macht. Menschen, die zu uns flüchten, werden von einigen für bestimmte gesellschaftliche Probleme verantwortlich gemacht. Ich war im Sommer im Spreewald unterwegs und habe keinen einzigen Menschen gesehen, den ich sicher als Mensch mit Migrationshintergrund hätte identifizieren können. Aber dort hat – bis auf einen Wahlkreis – überall die AfD gewonnen. Und das macht einen schon nachdenklich, dass gerade dort die Menschen das Gefühl haben, dass Geflüchtete ihnen etwas wegnehmen, wo Begegnung gar nicht stattfindet.

In einem Satz, sind geflüchtete Menschen oder Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland noch willkommen?
 

Reul Ich glaube, das ist zurzeit sehr gefährdet.

Heine-Göttelmann Die Diakonie setzt sich jeden Tag ein für eine Willkommenskultur, die trägt.

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