Sucht nach Liebe

Warum die Ursachen für eine Suchterkrankung meist in der Kindheit liegen

 

  

Exessiver Konsum von Alkohol und anderen Suchtmitteln ist oft ein Selbstheiliungsversuch

Wer suchtkrank wird, dem fehlt etwas an anderer Stelle. Viele wollen damit Bedürfnisse stillen, die sie anders nicht zu erfüllen wissen. Die Ursachen dafür liegen meist in der Kindheit und sorgen auch dafür, dass ungesunde Partnerschaften entstehen.

Text Carolin Scholz, Grafik m23 

Exzessiver Konsum sei fast immer ein Selbstheilungsversuch, sagt Denise Schalow. Auch wenn die, die konsumieren, das nicht unbedingt bewusst machen. „Ich habe bei Suchtkranken noch nie erlebt, dass sie einfach so angefangen haben.“ Denise Schalow leitet das Suchtberatungs- und Therapiezentrum der Diakonie Düsseldorf. Sie ist Psychologin und kann einen psychoanalytischen Blick auf das Thema Sucht öffnen.

Wer seinen Selbstwert nicht regulieren kann, braucht jemanden, der ihn bewundert und aufbaut 

Dieser Blick zeigt: Die Ursache für Sucht liegt meist schon in der Kindheit. In den ersten Lebensjahren lernen Kinder wichtige Dinge, die sie später brauchen, um ihre Gefühle und Emotionen steuern und einordnen zu können. Da sind zum Beispiel die Ich-Funktionen. Zu denen gehört es etwa, zwischen Ich und Du trennen zu können oder zwischen Innen und Außen. „Zu lernen, dass ich ein eigenes Individuum bin mit eigenen Grenzen.“ Auch das Selbstbewusstsein zu steuern oder Gefühle wahrzunehmen und richtig einzuordnen, um sich dann entsprechend verhalten zu können, sind Ich-Funktionen, erklärt Denise Schalow. Diese Funktionen lerne man in der Zweierbeziehung mit der primären Bezugsperson. Manchmal erlebt dieses Lernen aber eine Störung. „Zum Beispiel wenn die Eltern selbst nicht gut darin sind, oder auch durch traumatische Erlebnisse“, sagt Denise Schalow. Das könne dann dazu führen, dass Menschen auch später noch auf andere angewiesen sind, um ihre Emotionen, Bedürfnisse und auch ihren Selbstwert zu regulieren, und eben nicht lernen, das selbst zu tun.  

„Wenn ich meinen Selbstwert nicht selbst regulieren kann, brauche ich jemanden, der das für mich macht. Der mich bewundert und aufbaut“, sagt Denise Schalow. Oft gehen diese Menschen sehr intensive romantische Beziehungen ein. Welche, in denen man verschmelzen will mit der anderen Person. „Das wird oft als großes Liebesbedürfnis gesehen, man liebt mit Haut und Haaren, will eins sein mit dem oder der Partner*in.“

In der Anfangsphase einer Beziehung sei das oft auch ganz normal – solange es sich später wieder reguliert und beide sich auch unabhängig voneinander wahrnehmen können, eine Beziehung auf Augenhöhe entwickeln. Bei Menschen, die andere brauchen, um sich selbst oder ihren Selbstwert zu regulieren, funktioniert das aber nicht. Und hier komme dann oft Sucht ins Spiel.

Suchtmittel sind in der Regel immer verfügbar - im Gegensatz zu Menschen 

Die Psychoanalyse spricht von einem Ersatzobjekt. Etwas also, das als Ersatz herhalten muss, wenn das, was jemand eigentlich braucht, nicht verfügbar ist. Suchtmittel sind eben meistens verfügbar, wenn jemand sie braucht – anders als Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche haben. Vermeintlich hilft es, zu trinken, Kokain, Cannabis, Opiate oder andere Suchtmittel zu konsumieren, um sich zu beruhigen, wenn man traurig oder wütend ist, um sich stark und selbstbewusst zu fühlen – oder warm und geborgen. Diese Art des Selbstheilungsversuchs sei aber immer zum Scheitern verurteilt, sagt Schalow.

In der Therapie geht es dann darum, herauszufinden, woran es fehlt, welche Fähigkeit ersetzt oder welches Bedürfnis durch das Suchtmittel gestillt werden sollte. „Als Therapeutin mache ich dann oft das, was Eltern hätten tun müssen“, sagt Denise Schalow. Etwa die Gefühle des Gegenübers anerkennen und Wege aufzeigen, wie sich diese steuern und regulieren lassen.

Der Prozess der Aufarbeitung in der Therapie ist für viele schmerzhaft und erschreckend 

Dabei machen die, die zur Suchttherapie kommen, neue Beziehungserfahrungen. „Ich bin als Therapeutin auch eine Art Ersatzobjekt. Ich biete mich diesen Menschen an, bin zuverlässig da, ich trete ihnen wohlwollend gegenüber, setze aber auch Grenzen.“ Dieser Prozess der Aufarbeitung ist für viele schmerzhaft und erschreckend. Zu erkennen, was eine Sucht mit einem selbst zu tun hat – mit der eigenen Geschichte, Kindheit und den eigenen Erlebnissen. Dabei tun sich immer wieder Leerstellen auf, alte Gefühle kommen hoch. Manche spüren in Situationen Wut oder Traurigkeit und merken, dass diese Gefühle alt sind und nicht zu der Situation passen, in der sie aufgekommen sind. Gemeinsam erkunden sie dann, woher diese alten Gefühle kommen. „Und wir überlegen, wie sie damit umgehen können“, sagt Denise Schalow. Etwa welche Möglichkeiten es gibt, sich aus der Wut zu lösen – beispielsweise indem man sich auch abgrenzt und zurückzieht, statt auszurasten.

Die Suchtberatung arbeitet beziehungsstabilisierend

Doch auch an anderer Stelle spielen Liebe und Paarbeziehungen in der Suchttherapie eine Rolle. „Ich glaube, es ist die ganz große Angst aller, die in Therapie gehen, dass ihre Beziehung daran scheitert“, sagt Denise Schalow. Dabei legt die Suchtberatung und -therapie einen Fokus darauf, beziehungsstabilisierend zu arbeiten. „Wir glauben, dass jede Beziehung die Chance hat zu wachsen.“

Sich aus einer Sucht herauszuarbeiten sei aber immer eine große Herausforderung für eine Beziehung. Weil sich dadurch oft die Positionen und Funktionen der Einzelnen in einer Partnerschaft oder Familie verändern. Denise Schalow erinnert sich an einen Fall, in dem der Ehemann über viele Jahre getrunken hat. Seine Frau hat mit der Zeit die Familie allein um ihn herum organisiert und alle Entscheidungen getroffen. Als er trocken wurde, wollte er wieder mitentscheiden. Das sei für beide eine große Anpassungsleistung gewesen. „Es gibt Beziehungen, die daran scheitern. Da ist ein Partner, der plötzlich wieder auftaucht mit all seinen Bedürfnissen und Wünschen.“

In der Kindheit enstandene Defizite in der Persönlichkeit können gefüllt werden 

Deshalb findet Denise Schalow es wichtig, dass Angehörige, die Partnerin oder der Partner mit zur Therapie kommen und den Prozess begleiten. Auch wenn nur die süchtige Person verantwortlich für ihre Sucht ist, entstehe in einer Beziehung durch das Suchtmittel ein System, eine Art Dreiecksbeziehung mit der Sucht. „Und da hilft es, wenn beide lernen, sich daraus zu lösen.“ Insgesamt ist der Blick von Denise Schalow aber trotzdem optimistisch. Die Defizite, die in der Persönlichkeit entstehen, weil in der Kindheit bestimmte Fähigkeiten nicht ausgebildet wurden, können noch gefüllt werden. „Man kann das im Nachhinein lernen.“ Lernen, die eigenen Gefühle zu regulieren, sich zu beruhigen und sich wertvoll fühlen, ohne dafür ein Suchtmittel zu brauchen.  

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