Ein Besuch in Hassels-Nord
Text: Anne Wolf, Fotos: Jana Bauch
Hassels-Nord zählt zu den Sozialräumen mit sogenanntem besonderen sozialen Handlungsbedarf. So steht es auch im Quartiersatlas der Stadt Düsseldorf. Wir haben hinter die Statistiken geguckt und mit den Menschen aus dem Quartier gesprochen - über Erwachsenenwünsche und Mädchenträume, große Not und kleines Glück, kulturübergreifende Freundschaft und kaum auszuhaltenden Verlust.
Anfang September hat die Stadt Düsseldorf den Quartiersatlas 2024 veröffentlicht. Durch ein Punktesystem können die Sozialräume in Düsseldorf verglichen werden. Gesammelt wurden dafür Daten zu Themen wie Soziales, Gesundheit oder Bildung und Wohnen. Das Fazit: Der mit Abstand größte soziale Handlungsbedarf besteht für Hassels-Nord. Für das Quartier im Südosten des Stadtgebietes liegt der ermittelte Indexwert bei plus 4,3 über dem Durchschnitt. Zum besseren Verständnis: Als „hoch“ sieht die Stadt den Handlungsdruck bereits ab einem Wert von plus eins an, als sehr hoch ab 1,5 (vgl. Rheinische Post, 22. August 2024).
Es gibt die Zahlen. Und es gibt die Menschen hinter den Zahlen. Agir** und Lorin stammen aus dem Irak. Sie sind Jesiden. Als die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ Gebiete im Nordwesten des Irak erobert, wurden Nicht- Muslime, die sich weigerten zu konvertieren und nicht mehr fliehen konnten, ermordet. Agir war seit 2015 nicht mehr in seiner Heimat. „Die Gefahr ist zu groß“, sagt er. Selbst wenn irgendwann Frieden herrsche, könne er sich nicht vorstellen, zurückzukehren. „Im Irak haben wir nichts mehr. Unser Haus ist zerstört“, fügt seine Frau Lorin an.
Agir musste sich in den vergangenen Jahren mehrfach am Herzen operieren lassen. Erst seit ein paar Monaten geht es ihm besser. Agir wünscht sich sehnlichst eine Arbeit. Eine schwere körperliche Tätigkeit kann er nicht ausüben – das macht das Herz nicht mehr mit. Menschen wie Agir haben es schwer auf dem Arbeitsmarkt. Weil er nicht die ganze Zeit zu Hause sitzen möchte, hilft er ehrenamtlich in der Lebensmittelausgabe der Ev. Kirchengemeinde in Düsseldorf- Garath aus. Die Arbeit tue ihm gut, sie gebe seinem Leben Sinn, sagt er.
Kurz nach der Operation lebten Agir und Lorin mit ihren Kindern in einem Haus im elften Stockwerk im Norden von Hassels. Der Aufzug war ständig kaputt. Die vielen Stufen bis zur Wohnung waren für Agir eine Qual. „Das war eine schlimme Zeit“, ergänzt seine Frau Lorin. Die Familie lebt immer noch in der Siedlung, jetzt aber in einem Mehrfamilienhaus im ersten Stock. Unterstützung bei der Suche nach einer barrierefreieren Wohnung und bei der Einrichtung des Kinderzimmers bekam sie von den Mitarbeitenden des Ernst-Lange-Hauses der Diakonie.
Angst um die Angehörigen
Barbara Dully leitet das Ernst-Lange- Haus der Diakonie in Hassels. Im Laufe der Jahre hat sie viele Menschen mit ähnlichen Lebenswegen wie dem von Agir und Lorin kennengelernt. „2015 und 2016 sind viele Geflüchtete aus den Unterkünften nach Hassels gezogen. Viele haben ihre Fluchtgeschichte bis heute nicht verarbeitet. Dies anzugehen ist aber die Grundvoraussetzung, um im neuen, so fremden Leben anzukommen“, sagt sie. Die Mitarbeitenden des Ernst-Lange- Hauses unterstützen die Familien auf unterschiedliche Weise. Etwa indem sie die Menschen zusammenbringen, ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. „Wir wollen, dass die Menschen sich beheimatet fühlen und sich gegenseitig helfen.“
Im Ernst-Lange-Haus sind Freundschaften entstanden. Ayani und Galin haben sich im BabyCafé der Diakonie im Ernst-Lange-Haus kennengelernt. Wenn Ayanis kleiner Sohn weint, schultert Galin, ohne zu zögern, das Kind und wiegt es sanft hin und her, bis es sich ruhig in ihre Arme schmiegt, damit Ayani in Ruhe das Essen vorbereiten kann. Der Begriff „teilen dasselbe Schicksal“ passt auf die beiden Frauen nicht. Ayani stammt aus Nigeria, Galin aus Afghanistan. Galin erzählt, dass sie vor den Taliban aus Afghanistan geflüchtet ist. Sie deutet dabei auf die Narben an ihren Unterarmen. Sie schlafe schlecht, fügt sie leise an. Die Brüder sind noch in Afghanistan. Sie hat Angst um sie, kommt nicht zur Ruhe. Gemeinsam ist den Frauen, dass sie in einen fremden Teil der Welt flüchten mussten, in dem sie sich nun ein neues Leben aufbauen müssen.
Die Kraft fehlt
Im BabyCafé können sie sich austauschen – und ganz nebenbei Deutsch lernen. „Bisher gibt es im Quartier leider nur wenig Möglichkeiten, Kinder verlässlich betreuen zu lassen“, ist Barbara Dullys Beobachtung: „Das ist nicht nur hinderlich für die Kinder und ihre Entwicklung, sondern auch für die Frauen, die dann keine Integrationskurse besuchen können, um wirklich gut Deutsch zu lernen. Hinzu komme: „Die Frauen sehen, was beruflich möglich ist für Frauen in Deutschland, und wollen auch eine Arbeit. Aber das funktioniert nur, wenn die Kinder gut untergebracht sind.“ Zwar gebe es in Deutschland das Recht auf einen Platz in der Kindertagesstätte. „Aber keine der Familien hat die Kraft und das Geld, diesen Anspruch einzuklagen.“
Ein weiterer Stolperstein sei, dass die neu Zugezogenen sich erst durch den deutschen Bürokratie-Dschungel kämpfen müssten. „Das Kind zur Kita oder zur Schule anzumelden, können viele der Familien allein kaum bewältigen.“ Die Mitarbeitenden des Ernst- Lange-Hauses stehen dabei nicht nur beratend und bei Behördengängen zur Seite, sie helfen auch ganz konkret: mit einem Tornister, Federmäppchen und Turnbeutel für den Schulanfang, mit einem Schreibtisch fürs Kinderzimmer, damit die Kinder in Ruhe ihre Hausaufgaben machen können, oder einer neuen Waschmaschine, damit die Eltern die Wäsche nicht aufwändig im Waschbecken waschen müssen, wenn die Waschmaschine kaputt ist.
Die Kinder gehen ihren Weg
Barbara Dully weiß, dass alle ihre Bemühungen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind. „Das Bildungs- und das Gesundheitssystem sind ungerecht. Das können wir nicht ändern. Aber wir können einzelne Menschen dabei unterstützen, ihren Weg hindurch zu finden.“ Und sie sieht die Erfolgsgeschichten. Die Töchter von Agir und Lorin werden ihren Weg gehen. Davon ist sie überzeugt. Lenya ist zwölf Jahre alt. Sie spricht perfekt Deutsch. Sie besucht eine weiterführende Schule. Sie engagiert sich in der Schülervertretung, lernt so, dass sie dem System nicht hilflos ausgeliefert ist, dass sie es in der Hand hat, Dinge zum Besseren zu verändern. Sie blickt voller Freude in die Zukunft und sagt mit der Überzeugung der Heranwachsenden: „Im Endeffekt sind wir alle nur Menschen.“
Mit der jüngsten, Laura, war Mutter Lorin früher im BabyCafé. Jetzt ist Laura sieben Jahre alt. Auf dem Spielplatz stürmt sie zur Schaukel, dreht die Ketten ineinander, bis es nicht mehr weitergeht. Sie hängt sich mit den Armen über den Sitz und lässt sich wild durch die Luft wirbeln. Sie wächst sicher und frei auf. Für ihre Eltern ist das die Hauptsache. Freiheit, das bedeutet auch, Mädchenträume träumen zu dürfen. Lauras Weihnachtswunsch? Eine Fotokamera für Kinder in Babyrosa.
Weitere Themen
Abschied
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Berührung
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Einsamkeit
Spenden für Familien in Not
**Die Menschen in Hassels-Nord haben mit uns sehr offen über ihre Situation gesprochen. Das erfordert Mut und wir sind sehr dankbar für das Vertrauen, das uns entgegengebracht wurde. Um die Familien vor Stigmatisierung zu schützen, haben wir ihre Namen im Text geändert. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich in die Gesellschaft einbringen und auf keinen Fall den Eindruck erwecken möchten, sie seien bedürftig.
Das Ernst-Lange-Haus ist auf Spenden angewiesen, etwa um Soforthilfe leisten zu können, wenn die Waschmaschine kaputtgeht, um mit den Kindern, deren Eltern sich keinen Urlaub leisten können, in den Ferien Ausflüge zu unternehmen oder für unterstützende Angebote für Familien wie eine heilpädogische Aufholgruppe für Kita-Kinder oder eine Tanz und Musikgruppe für Kinder und ihre Eltern. Mehr Informationen dazu gibt es hier.