"Die Liebe als das eine Konstrukt gibt es nicht"
Text Marc Latsch, Grafik m23, Foto privat
Prof. Dr. Simon Eickhoff leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften an der Universität Düsseldorf. Mithilfe künstlicher Intelligenz will er in seiner Forschung das menschliche Gehirn noch besser verstehen lernen. Im Gespräch sagt er, in welchen Bereichen das schon gut funktioniert und warum es bei der Liebe deutlich komplizierter ist.
Herr Eickhoff, was hat unser Gehirn damit zu tun, in wen wir uns verlieben?
Simon Eickhoff Das Problem ist, dass Liebe wie viele andere soziale Emotionen eine deutliche inter-individuelle Varianz aufweist. Heißt also: Wir Menschen sind verschieden. Diese Verschiedenheit ist in unserem Gehirn abgebildet. Es hat also auf jeden Fall etwas damit zu tun, in wen wir uns verlieben. Beim „was“ und „wie“ wird es kompliziert.
Warum?
Eickhoff Weil wir bei Eigenschaften und Vorlieben drei große Faktoren haben, die miteinander interagieren. Der erste Punkt ist die Genetik. Viele unserer Eigenschaften sind genetisch vordisponiert, aber nicht determiniert. Der zweite Punkt ist die Entwicklung. Verliebtsein geht erst so richtig los in der Pubertät, wenn das menschliche Gehirn bereits Jahre und Jahrzehnte Einflüssen ausgesetzt war. Wann immer wir eine Erfahrung machen, dann hinterlässt das Spuren. Der dritte Punkt sind die sozialen Einflussfaktoren. Wir Menschen sind extrem soziale Wesen, unsere Umwelt prägt uns sehr stark. All das zusammen macht aus uns den Menschen, der sich verlieben kann oder verliebt ist. Das Gehirn ist das Substrat unserer Individualität. Warum dann mal die Chemie stimmt und mal nicht, ist wiederum etwas, was ich Ihnen kaum oder gar nicht beantworten kann.
Nun ist Verliebtheit der eine Teil. Bei der Partnersuche geht es aber auch darum, wer gut zueinander passt. Wäre da ein Tinder-Profil mit Gehirnscan statt Foto zielführender?
Eickhoff (lacht) In der Psychologie gibt es nicht wirklich ein Fazit, wer besser zusammenpasst. Gleich und Gleich gesellt sich gern, Gegensätze ziehen sich an. Was davon ist wahr? Natürlich ist es so, dass Sie für eine Beziehung genug gemeinsame Basis brauchen. Auf der anderen Seite ist eine Kopie von einem selbst oft nicht optimal, weil dadurch die Möglichkeit fehlt, Schwächen der eigenen Persönlichkeit auszugleichen. Zwei extrem introvertierte Menschen können natürlich auf ihre Weise funktionieren, aber ist das gut? Das hängt immer von der jeweiligen Erwartungshaltung ab. Und dann kommt natürlich noch die Attraktivität dazu.
Aber gehen wir davon aus: Ich weiß schon, was ich möchte. Beispielsweise eine*n treue*n und stetige*n Partner*in ohne Lust an ausschweifenden Exzessen. Frage ich ihn oder sie dann dazu aus oder schaue ich mir lieber das Gehirn an?
Eickhoff Im Moment werden Sie fragen müssen. In einem mittelfernen Science-Fiction-Szenario könnte es möglich sein, aus einem Gehirnscan diejenigen Eigenschaften objektiv auszuwählen, die man möchte. Wir können das durchaus jetzt schon, aber noch nicht mit der Präzision, die man bräuchte, um es breit einzusetzen. Darüber hinaus müsste man in dem von Ihnen beschriebenen Szenario fragen: Möchte ich das wirklich? Da wird es kompliziert, wenn subjektive Wünsche auf objektive Eigenschaften treffen. Eigentlich müssten Sie dann auf beiden Seiten das Gehirn scannen. Und zudem bestimmen, welche Eigenschaften für ein solches Matchmaking wirklich relevant sind.
Sie haben angedeutet, was Sie heute in der Hirnforschung schon können. Auf welcher Grundlage treffen Sie Ihre Aussagen?
Eickhoff Die Grundidee ist immer, Gehirnscans von einer größeren Anzahl an Personen und gleichzeitig eine Zielvariable zu haben. Diese Variable kann eine medizinische Diagnose, ein Leistungstest oder eine Persönlichkeitseigenschaft sein. Dann nutzen wir künstliche Intelligenz und trainieren den Algorithmus darauf, den Zusammenhang zwischen Scans und Zielvariable zu lernen. Im nächsten Schritt können wir dem Algorithmus Gehirnscans geben und von ihm eine Vorhersage auf Grundlage der Neurobiologie verlangen. Das eröffnet ein sehr breites Spektrum an Möglichkeiten, was mit dieser Technik potenziell machbar ist. Aktuell können Sie gute Aussagen über Gruppen treffen, aber noch nicht präzise genug, um für den Einzelnen eine Therapie empfehlen oder rechtliche Entscheidungen treffen zu können. Aber es ist noch ein recht neues Feld. In den kommenden fünf bis zehn Jahren können riesige Schritte folgen.
In welchen Bereichen können Sie jetzt schon recht sichere Aussagen treffen?
Eickhoff Meistens sind Diagnosen, gerade im Bereich der Neurodegeneration, besser vorherzusagen als andere Werte. Bei den individuellen Eigenschaften sind objektiv messbare Leistungen wie Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit oder IQ besser vorherzusagen als Persönlichkeitseigenschaften. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Zielvariablen klarer sind.
Beim Thema Persönlichkeitsmessung könnte irgendwann die Frage aufkommen: Wir können das, aber wollen wir das auch? Wo ziehen Sie die Grenze?
Eickhoff Ich bin zunächst mal ein großer Verfechter des Rechts auf Wissen. Darüber hinaus muss man einzelne Szenarien unterscheiden. Wenn es darum geht, anstrengende medizinische Tests zu ersetzen, sind Gehirnscans sicherlich sinnvoll. Im Assessment Center oder bei der MPU können Sie die Objektivität verbessern und sollten insgesamt für eine erhöhte Fairness sorgen. Doch es gibt auch Fälle, an die wir mit großen Bedenken herangehen sollten, beispielsweise im Bereich der Versicherungen und Krankenkassen. Das negative Extrembeispiel wären Scans, die entscheiden, ob jemand in Diktaturen einen Reisepass erhält oder ins Umerziehungslager muss. Von dieser Forschung sind wir noch weit weg. Ich halte es trotzdem für essenziell, das Wissen darüber auch in Deutschland zu erlangen.
Wir haben am Anfang darüber gesprochen, was Verliebtheit mit unseren Gehirnen zu tun hat. Wie ist es bei der Liebe?
Eickhoff Ich würde dazu auf der neurobiologischen Ebene grob drei, sich stark überlappende Bereiche charakterisieren. Der erste ist stark affektgetrieben und am ehesten mit Verliebtheit gleichzusetzen. Da geht es vor allem um körperliche Anziehung. Der zweite geht in Richtung Verliebtsein. Hier spielt die Kompatibilität der Persönlichkeit eine viel größere Rolle. Statt um einen Dopaminkick geht es auch im Gehirn um längerfristige Prozesse. Im dritten greifen immer mehr sozialkognitive Mechanismen. Das überschneidet sich grob mit den drei Einflussfaktoren, die ich am Anfang genannt habe. Mit der Genetik, der Persönlichkeitsentwicklung und der sozialen Umwelt. Die Liebe als das eine Konstrukt gibt es nicht.
Liebe ist kaum definierbar, das macht es für einen Naturwissenschaftler ohnehin schwierig.
Eickhoff Absolut. Beziehungsweise es gibt so viele Definitionen. Mit diesen drei groben Phasen, dem „Wow“, dem „Wir kommen ja toll miteinander aus“ und dem „Wir leben gut zusammen“ verdeutlicht sich schon, welch schwieriges Konstrukt Liebe ist.
Lassen sich romantische und nicht-romantische Liebe aus neurobiologischer Sicht unterscheiden?
Eickhoff Ich bin mir nicht sicher, ob das so konkret schon untersucht wurde. Grob kann man sicherlich unterscheiden zwischen einem Stimulus, der durch die andere Person repräsentiert wird, und einem romantischen Teil, der eher mit internen Stimuli, mit Ideen und Träumen zu tun hat. Der basiert wohl mehr darauf, dass meine Erlebnisse mit einer anderen Person eine Resonanz mit meinen eigenen Vorstellungen haben.
Sie haben einmal für einen Artikel davon gesprochen, dass menschliche Liebe im Vergleich zum Tierreich doch sehr einzigartig ist. Kann man das am Gehirn auch erkennen?
Eickhoff (zögert) Ich kann Ihnen sagen, was das große Problem daran ist. Wir reden zu großen Teilen über subjektives Erleben. Wir können aber nicht wissen, wie der Hund die läufige Hündin erlebt, die ihm gerade auf der Straße begegnet. Und wir können auch nicht wissen, wie der Storch seine Partnerin erlebt, mit der er das sechste Nest baut. Ich tue mich bei Vergleichen zwischen Mensch und Tier deshalb so schwer, weil wir keinen Zugang zu tierischem Erleben haben. Wir urteilen da allein aufgrund phänotypischer Beobachtungen.
Jetzt haben wir besprochen, dass Liebe sehr schwer zu verorten ist. Was bringt es uns eigentlich, Liebe zu messen?
Eickhoff Das ist die beinahe interessanteste Frage. Ich denke, ganz viel ist Neugier. Die Neugier ist einer der größten Charakterzüge des Menschen. Der praktische Nutzen ist allerdings tatsächlich gering. Selbst wenn wir alles perfekt messen könnten, kommen wir wieder an den Punkt der sozialen Umwelt. Auch die muss passen und ist komplexer als die Neurobiologie zweier Personen. Da geht es um gesellschaftliche Verhältnisse und Lebenssituationen. Nach der Liebe zu fragen, ist sehr spannend, aber im Nutzen nicht mit medizinischen und testpsychologischen Anwendungen vergleichbar. Auch wenn ich tippen würde, dass sich da der größte Markt entwickelt. Also machen wir am besten weiter wie bisher? Kennenlernen und überraschen lassen? Eickhoff Letztendlich ist es nicht vorhersehbar, genau. Das liegt auch an der dynamischen Komponente in unseren Gehirnen. Wir sind unheimlich plastisch. Was wir erleben, formt uns. Sie sind in fünf Jahren nicht mehr derselbe Mensch wie jetzt. Das lässt auch für Beziehungen keine Langzeitprognosen zu.
Zur Person
Prof. Dr. Simon Eickhoff, Jahrgang 1979, leitet das Institut für Systemische Neurowissenschaften an der Heinrich- Heine-Universität Düsseldorf und das Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich. Er forscht unter anderem zu Themen wie Gehirnorganisation und zur Entwicklung neuer diagnostischer Ansätze für Patient*innen mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Hierfür nutzt er die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz.
Weitere Themen
Abschied
Armut
Aufbruch
Wohnen
Zusammenhalt
Berührung
Ankommen
Einsamkeit