Im Hamburger Getränkekollektiv von Uwe Lübbermann zählt jede Meinung, alle Kollektivist*innen werden nach Einheitslohn bezahlt, und Kündigungen sind nahezu ausgeschlossen. Kann das funktionieren? Ein Interview mit dem Gründer.
Ist das Premium-Kollektiv ein Modell, das Armut reduzieren kann?
Armut ist nichts, was einem passiert, sondern ist eine Entscheidung, die getroffen wurde. Aber nicht von den Menschen, die arm sind, sondern von anderen. Es gibt auf dieser Welt genug Ressourcen für alle. Diejenigen, die über die Ressourcen entscheiden, verfolgen aber nicht das Ziel „Wie verteile ich die Ressourcen am besten?“, sondern „Wie kann ich mir am meisten von den Ressourcen nehmen?“. Die Folge: Eine Handvoll Menschen hat so viel Besitz wie die Hälfte der ärmsten Weltbevölkerung zusammen.
Wenn man das ändern will, gibt es verschiedene Herangehensweisen: Man kann in die Politik gehen oder demonstrieren, oder man kann sich das Arbeitsfeld „Wirtschaft“ aussuchen. Das ist mein Feld. Hier kann ich agieren und etwas bewegen. Und hier kann ich vormachen, wie ein Unternehmen aussehen könnte, das nicht Gewinnmaximierung zum Ziel hat, sondern ein vernünftiges Auskommen für alle erreichen will.
Wie erreicht das Premium-Kollektiv dieses vernünftige Auskommen für alle?
Da gibt es zwei wichtige Stellschrauben, an denen wir gedreht haben: Zum einen setzen wir auf die Unternehmensdemokratie. Das heißt, dass die Menschen, die ein Unternehmen besitzen, nicht automatisch über alles bestimmen: Alle Betroffenen müssen miteinbezogen werden. Dafür braucht es einen Konsens. Zum anderen haben wir ganz klar gesagt, dass wir keine Gewinne erwirtschaften wollen für den Inhaber, sondern wir wollen ein vernünftiges Auskommen haben für alle – mit einem Einheitslohnmodell. Das funktioniert jetzt schon seit über 20 Jahren. Das ist gelebte Praxis. Und es zeigt, dass wir mit unserem Unternehmensmodell Potenziale heben können, die konventionelle Unternehmen liegen lassen.
Welche Potenziale sind das?
Zum Beispiel haben wir über 1.700 gewerbliche Partner*innen, mit denen wir zusammenarbeiten, und wir hatten noch nie einen Rechtsstreit. Ein anderes Beispiel: 13. März 2020, der Beginn der Pandemie, 95 Prozent Umsatzrückgang und das auf unbekannte Dauer. Das ist eigentlich für die meisten Unternehmen ein Todesurteil. Ich habe kurz überlegt, ob ich in dieser Ausnahmesituation alles kürze und streiche. Das habe ich dann aber nicht gemacht, sondern ich habe umverteilt: Ich habe alle – Lieferanten, Fahrer*innen, Händler*innen, Mitarbeitende etc. – gefragt, ob wir Geld kürzen, verschieben oder streichen dürfen. Das heißt: Ich bestimme nicht über dich, sondern du entscheidest mit. Und andersherum habe ich auch gefragt, ob der jeweils andere etwas von uns braucht, weil er vielleicht in eine finanzielle Schieflage geraten ist. Ich habe also umverteilt von denen, die gerade etwas hatten, zu denen, die gerade etwas brauchten – weil in der Summe genug da ist. Das Ganze basierte nur auf Vertrauen! Es gab keine schriftlichen Verträge, Zins oder Rückzahlungsvereinbarungen. Alle Vereinbarungen basierten nur auf Zuruf und Vertrauen. Das geht aber nur, wenn du vorher schon jahrelang Vertrauen aufgebaut hast. Es gab einen Getränkehändler, der hat einfach so von sich aus 10.000 Euro geschickt und gesagt: „Arbeite mal damit. Wenn ich das Geld wieder brauche, dann melde ich mich irgendwann.“ Unser Ziel war: Wir lassen niemanden hängen. Niemand soll in die Armut rutschen.
Weil du Armut selbst erlebt hast?
Ja, auch. Ich weiß selbst, wie das ist, arm zu sein als Kind einer alleinerziehenden Mutter, die nicht viel Geld hatte. Geld macht nicht glücklich, aber zu wenig Geld macht sehr unglücklich. Deshalb ist mein Ziel, dass alle genug haben. Für mich ist das aber auch eine Belastung, weil ich die Person im Kollektiv bin, die voll haftet: Das war damals die einfachste und kostengünstigste Form, das Kollektiv zu gründen. Ich habe auch Existenzängste: Wenn man längere Zeit einmal arm war, geht diese Angst nicht wirklich wieder weg, auch wenn man später erfolgreich ist. In der Pandemie gab es so viele Menschen, die etwas brauchten oder haben wollten, und ich stand zwischendrin. Ich musste jonglieren und wollte niemanden hängen lassen. Mein Gehalt habe ich als Erstes eingefroren und später dann auf 1.000 Euro gesetzt, um das Unternehmen zu stützen. Diese 1.000 Euro sind mein Minimalbetrag, den ich auch wirklich brauche. Damit hatte ich immer etwas zu essen, konnte heizen und hatte Strom.
Welche Grundprinzipien unterscheidet das Kollektiv von anderen Unternehmen?
Es gibt eigentlich nur ein Grundprinzip, das feststeht. Dieses Grundprinzip ist die Gleichwürdigkeit aller Menschen, alles andere können wir diskutieren. Gleichwürdigkeit bedeutet: „ein Mensch ist ein Mensch“ – egal, welche Hautfarbe, welche Religion, welche sexuelle Orientierung oder Meinung er hat. Daraus ergeben sich Rechte, die jeder Mensch hat. Unsere Methode ist daher die Konsensdemokratie, die auf der Gleichwürdigkeit aufsetzt. In unserem 20-jährigen Bestehen haben wir es nur drei Mal nicht geschafft, einen Konsens zu erreichen. Wenn dieser Fall eintritt, entscheide ich als Inhaber des Unternehmens. Das ist für mich im Übrigen auch ein Kennzeichen von guter Führung: Je seltener eine Führungskraft etwas anordnen muss, desto besser ist die Führung gelaufen. Außerdem gibt es bei uns nicht den Lohn nach Leistung, sondern nach Bedürfnissen. Denn Leistungsfähigkeit ist häufig das Ergebnis von Glück im Leben vorher, zum Beispiel weil man wohlhabende Eltern hatte oder ohne eine Krankheit leben konnte.
Aber es gibt noch weitere Dinge, die ihr anders macht?
Es gibt eine ganze Reihe von Ableitungen der Gleichwürdigkeit. Wir haben zum Beispiel den Antimengenrabatt. Das bedeutet, dass wir Rabatte für diejenigen anbieten, die nur geringe Mengen abnehmen. Oder die „Kann-ich-damit-leben-Regel“, die sicherstellt, dass wir fast immer einen Konsens finden. Bei uns gibt es auch kein Personalauswahlverfahren. Wir lassen im Prinzip jede Person jeden Job probieren, wenn sie das möchte. Diese Personen haben sofort volles Stimmrecht, Kündigungsschutz und Zugang zu allen Informationen. Das bedeutet große Sicherheit und Freiheit, aber auch große Macht. Bei uns gibt es keine Sanktionen. Wenn Fehler passiert sind, dann reden wir darüber. Wenn drei Mal derselbe Fehler passiert ist, dann machen wir uns darüber Gedanken, ob vielleicht der Job umgebaut werden muss, damit der Fehler nicht mehr passiert. Wir lassen niemanden hängen, auch nicht die Leute, die sich vielleicht schwierig und anstrengend verhalten. Denn auch sie brauchen ihr Einkommen.
Wie hoch ist der Einheitslohn im Kollektiv?
Mit 18 Euro brutto pro Stunde bleiben bei einer Vollzeitstelle am Ende etwa 2.000 Euro übrig. Das reicht für eine Einzelperson. Wer Kinder hat, bekommt pro Kind zwei Euro pro Stunde zusätzlich. Dasselbe gilt für alle, die Angehörige pflegen oder eine Behinderung haben. Und weil wir keine Geschäftsräume haben, sondern alle von unterschiedlichen Orten aus arbeiten, gibt es eine Arbeitsplatzpauschale von 1,50 Euro pro Stunde dazu. Bei uns wird niemand reich, aber das ist auch nicht unser Anspruch. Das Geld soll ausreichen: für Miete, gesundes Essen und so weiter.
Wie bist du eigentlich auf die Kollektiv-Idee gekommen?
In jungen Jahren hatte ich sehr viele verschiedene Jobs. Mein Schlüsselmoment kam dann tatsächlich auf dem Bau, wo die Maurer ein ganz umgedrehtes Weltbild hatten. Sie hielten nichts von Akademiker*innen, die handwerklich nicht richtig was zustande bringen. Da wurde mir klar: Bank-Menschen halten die Bau-Menschen für etwas Geringeres, und umgekehrt gilt das genauso. Und ich fragte mich: Wer hat hier eigentlich recht? Meine Antwort lautete: eigentlich keiner. Das sind alles Menschen. Banker brauchen Maurer, und Maurer brauchen Banker. Das war erst einmal so ein Gefühl. Als Gründer hatte ich dann zuerst keine rechte Ahnung von bestimmten Dingen, weil mir die Erfahrung fehlte, also habe ich alle eingeladen, sich zu beteiligen. Es gab kein Konzept und keinen Plan, sondern einfach diese Grundhaltung, und damit haben wir los- und weitergearbeitet.
Und wie definierst du Erfolg?
Für mich ist Erfolg vorrangig die Abwesenheit von Problemen und die Absicherung meines Lebens. Und dann gibt es da noch eine andere Ebene des Erfolgs, wie zum Beispiel Potenziale zu heben, die andere nicht heben können. Für das Fusion-Festival habe ich beispielsweise die GetränkeLogistik so optimiert, dass bei der Lieferung neun LKWs eingespart werden konnten. Und dieses Jahr schaffe ich bestimmt 11.
Dein Buch heißt „Wirtschaft hacken“. Warum?
Wenn ich gefragt werde, wie sich meine Arbeit zu den gängigen Ideen des Wirtschaftens verhält, antworte ich oft, dass ich versuche, das Beste aus zwei Welten zu verbinden: aus der Welt der konventionellen Wirtschaft und aus der Welt der alternativen Wirtschaft. Um zukunftsfähig zu sein und nachhaltig zu wirken, braucht Wirtschaft das Prinzip der Kooperation. Ich glaube, unser Wirken im Kollektiv lässt sich durchaus in Analogie zum Hacken von Computern verstehen. Wir übernehmen einen kleinen Teil des Systems und breiten uns dann immer weiter aus – wie ein Virus in der Software.
Das Buch „Wirtschaft hacken“ von Uwe Lübbermann ist im Büchner Verlag erschienen. Menschen, die nicht viel Geld haben, können sich das Buch kostenfrei als pdf, ePUB und Hörbuch auf der Verlagsseite herunterladen: www.buechner-verlag.de/buch/wirtschaft-hacken
Foto: Uwe Lübbermann
Titelfoto: Ameer Basheer on Unsplash
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