Thema Armut

Die Schere zwischen Arm und Reich geht schon seit Jahren auseinander – die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben die Polarisierung noch einmal verstärkt. Was tun? 

Offene Hände

Impulse zur Veränderung müssten aus der Mitte der Gesellschaft kommen, fordert der Kölner Politikwissenschaftler und Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge

Das Gespräch führte der Düsseldorfer Journalist Thomas Becker; Foto im Titel: Andrew Moca on unsplash.com

Herr Prof. Butterwegge, wenn Sie durch Städte wie Köln oder Düsseldorf laufen, wo wird Armut besonders sichtbar?

Zum Beispiel in der Bahnhofsgegend, wo sich die Armut konzentriert. Man sieht viele Obdachlose, die betteln. Hier haben wir es mit absoluter Armut von Menschen zu tun, die ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Sie haben oft nicht genug zu essen, keine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung, kein Obdach und keine medizinische Grundversorgung. Diese extreme oder existenzielle Armut, wie sie auch bezeichnet wird, verorten viele im Globalen Süden und tun so, als gäbe es sie in Deutschland nicht. Laut Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe leben in Deutschland allerdings 45.000 Menschen auf der Straße und es gibt 258.000 Wohnungslose.

In der Wissenschaft ist auch von relativer Armut die Rede. Was ist darunter zu verstehen?

Relativ arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse zwar befriedigen kann, sich in einem so reichen und wohlhabenden Land wie Deutschland aber nicht leisten kann, was für andere normal ist: ab und zu in ein Restaurant zu gehen, ins Kino oder ins Theater. All das fällt wegen Geldmangels flach. Bei Kindern zeigt sich relative Armut daran, dass Zoo-, Kirmes- und Zirkusbesuche kaum möglich sind, geschweige denn ein Urlaub. Das sei Jammern auf hohem Niveau, heißt es oft. Aber: Relative Armut kann sehr wohl erniedrigend und entmutigend sein. Ein Jugendlicher, der beispielsweise im tiefsten Winter mit Sandalen auf dem Schulhof steht, leidet mitunter mehr darunter, von seinen Klassenkameraden ausgelacht zu werden, als an der Kälte. Relative Armut heißt nicht so, weil man sie relativieren sollte. Sie ist relativ zum Lebensstandard der Wohlhabenden und Reichen zu sehen, die den Armen gegenüberstehen.

Als relativ arm gilt jemand, der weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat.

Das ist eine Konvention der Europäischen Union, um eine Grenze zu finden, unterhalb derer man von Einkommensarmut sprechen kann – oder von Armutsgefährdung, was aber, wie ich finde, verharmlosend ist. Die Grenze liegt in Deutschland momentan bei 1.126 Euro netto für einen Alleinstehenden. Wer davon in einer Stadt wie Düsseldorf oder Köln eine Wohnung mieten muss, lebt auf einem Minimalstandard, den ich als Armut bezeichne. Zwar kann es sein, dass jemand eine Eigentumswohnung besitzt, dann wären die 1.126 Euro vielleicht ausreichend. Aber wer so wenig Geld verdient, hat normalerweise kein Wohneigentum. 13,4 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind betroffen. Das sind immerhin 16,1 Prozent der Bevölkerung – ein Rekordstand. Armut ist zwar nicht ansteckend, breitet sich aber immer weiter aus.

 

 

Wer gerade 40 Euro für Mobilität im Regelsatz der Grundsicherung hat, wird kaum nach Berlin fahren, um vorm Kanzleramt zu demonstrieren.

In welchen Gruppen ist Armut besonders ausgeprägt?

Ein besonders hohes Armutsrisiko trifft Erwerbslose, von denen mehr als 50 Prozent weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Bei den Alleinerziehenden sind es über 40 Prozent, bei den Menschen mit ausländischem Pass mehr als 35 Prozent und bei kinderreichen Familien mehr als 30 Prozent.

Wie stark ist Armut unter Erwerbstätigen verbreitet?

Mehr als die Hälfte der von Armut betroffenen Menschen sind erwerbstätig. Es ist also ein nicht auszurottendes Vorurteil, zu sagen: Die Armen liegen auf der faulen Haut. Der Niedriglohnsektor ist das Haupteinfallstor für heutige Erwerbs- und spätere Altersarmut. Zwischen 20 und 25 Prozent der Beschäftigten arbeiten bundesweit im Niedriglohnsektor. Dazu zählen auch die vielen Paketzusteller*innen, Getränkelieferant*innen und Fahrradkurier*innen, deren Verdienst am Rande oder innerhalb der Armutszonen liegt.

Wie stark zeigt sich relative Armut bei Kindern sowie im Alter?

Von den Minderjährigen sind etwas mehr als 20 Prozent betroffen, 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche. Bei Senioren sind es 16,4 Prozent – leicht über dem Durchschnitt, wobei das Armutsrisiko der über 64-Jährigen zuletzt am stärksten zugenommen hat. Ich spreche daher von einer Reseniorisierung der Armut. Wenn man nicht gegensteuert – und das hat man mit der Grundrente nur minimal getan – wird die Altersarmut in Zukunft zu einem besonders drängenden Problem.

 

„Mehr als die Hälfte der von Armutbetroffenen Menschen sind erwerbstätig. Es ist also ein Vorurteil, zu sagen: Die Armen liegen auf der faulen Haut.“

Was sind die Ursachen für die zunehmende Armut?

Ich sehe drei Ursachenbündel. Erstens die Deregulierung des Arbeitsmarktes seit Anfang des Jahrtausends. Da hatten die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 einen wesentlichen Einfluss. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, die Leiharbeit liberalisiert und mit den Minijobs eine Armutsfalle besonders Jahfür Frauen eingeführt. Das zweite Moment ist die Demontage des Sozialstaates und der gesetzlichen Rentenversicherung, deren Beiträge für Unternehmen gesenkt wurden. Dafür hat man in Kauf genommen, dass die Alters- und Erwerbsarmut der Beschäftigten steigt. Das Dritte ist die Steuerpolitik. Durch sie ist die sozioökonomische Ungleichheit gewachsen. Wohlhabende wurden begünstigt, während mit der Mehrwertsteuer diejenige Steuer, die Arme am meisten trifft, im Jahr 2007 von 16 auf 19 Prozent erhöht wurde.

Wie zeigt sich die Begünstigung?

Alle Kapital- und Gewinnsteuern, die es mal in der Bundesrepublik gab, wurden entweder abgeschafft, abgesenkt oder wie die Vermögenssteuer seit 1997 nicht mehr erhoben, obwohl sie im Grundgesetz verankert ist. Der Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer, der unter Helmut Kohl noch bei 53 Prozent lag, wurde auf 42 Prozent beziehungsweise 45 Prozent für einige wenige Reiche gesenkt. Noch stärker war die Absenkung bei der Körperschaftssteuer, also der Einkommenssteuer der großen Kapitalgesellschaften, die nur noch 15 Prozent beträgt. Die Kapitalertragssteuer wiederum betrug einst bis zu 53 Prozent und wird heute pauschal mit 25 Prozent berechnet berechnet. Das zeigt: Alle Steuern, die Reiche treffen, wurden drastisch beschränkt. Ich nenne das eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip, die mehr Armut und mehr Reichtum schafft: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.

Welche Entwicklung sehen Sie seit Beginn der Corona-Pandemie?

Sie hat die Polarisierungseffekte verstärkt. Nur ein Beispiel: Durch Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Geschäftsaufgaben hatten viele Menschen Einkommenseinbußen, sodass sie mehr beim Discounter einkaufen mussten, die wiederum Hyperreichen gehören. Nach Angaben des US-amerikanischen Wirtschaftsmagazins „Forbes“ ist Dieter Schwarz, als Eigentümer von Lidl und Kaufland der reichste Mann in Deutschland, während der Pandemie um 7,5 Milliarden Dollar reicher geworden. Bertolt Brecht hat es in seinem Kindergedicht ‚Alphabet‘ auf den Punkt gebracht: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der arme sagte bleich, wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ So war das auch in der Pandemie. Die Armutsquote ist von 2019/20 von 15,9 auf 16,1 Prozent gestiegen. Der Ukraine-Krieg wird die Situation noch einmal verschärfen.

Hyperreiche besitzen einen Großteil der Vermögen in Deutschland – wie viel genau?

Da stütze ich mich auf das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Demnach besitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen mehr als 67 Prozent des Nettogesamtvermögens. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt mehr als 35 Prozent und das reichste Promille immer noch mehr als 20 Prozent. Es gibt also bei den Reichen eine Konzentration des Vermögens an der Spitze. Den 45 reichsten Familien in der Bundesrepublik gehört mehr als der ärmeren Hälfte der Bevölkerung, also mehr als 40 Millionen Menschen.

Warum nehmen Menschen diese Entwicklung hin?

Das hat mit dem meritokratischen Mythos zu tun, eine Art Leistungsideologie. Sie besagt: Leistung muss sich lohnen, was ja nicht verkehrt ist. Nach neoliberaler Ideologie besteht Leistung jedoch in ökonomischem Erfolg: Reichtum gilt als Belohnung für eine tolle Leistung und Armut als Bestrafung für Leistungsunfähigkeit oder -unwilligkeit. Das wird von vielen Menschen akzeptiert. Es legitimiert Reichtum und Ungleichheit. Bei einer Diskussion mit Abiturient*innen wurde mir entgegnet: Warum sollen die Aldi-Brüder kein Privatvermögen von zig Milliarden Euro haben? Sie hätten ja was geleistet. Ich denke aber, dass ihre Leistung eher darin bestand, kleine Lebensmittelläden sowie deren Verkäufer*innen zu ruinieren.

Was ist zu tun, um Armut entgegenzuwirken?

Es müsste außerparlamentarischer Druck erzeugt werden. Aber das ist bei uns kaum zu erwarten. Heinrich Heine hat Deutschland das Land des Gehorsams genannt. Und da die revolutionären Traditionen bei uns verschüttet sind, sehe ich aktuell nicht, dass man eine Massenbewegung auf die Straße bekommt.

Mit welchen Forderungen würden Sie auf die Straße gehen?

Das fängt beim Mindestlohn an, der selbst mit 12 Euro noch zu niedrig ist. Ein Pferdefuß sind zudem die Ausnahmen: Langzeitarbeitslose sind ausgenommen, Menschen unter 18 Jahren ohne Berufsausbildung und Praktikant*innen ebenso – also gerade dieGruppen, die besonders geschützt werden müssten. Der zweite Pferdefuß ist der Anpassungsmechanismus. Die Ampelkoalition erhöht den Mindestlohn im Oktober von 10,45 auf zwölf Euro, aber dann tritt ein Mechanismus wieder in Kraft, der schon zuvor dafür gesorgt hat, dass der Mindestlohn so gering war: Die Mindestlohnkommission, paritätisch von Gewerkschaften und der Arbeitgeberseite besetzt, legt den Mindestlohn nachlaufend zu den Tarifabschlüssen fest. Das ist paradox. Denn der Mindestlohn ist ja gerade nötig geworden, weil die Gewerkschaften nicht mehr stark genug waren, um bei den unteren Tarifen ausreichende Mindestlöhne abzuschließen.

Wie ließe sich Armut Ihrer Meinung nach sonst noch bekämpfen?

Die Regelbedarfe bei Hartz IV müssen wesentlich erhöht werden. 449 Euro ist aktuell der Regelbedarf für einen Alleinstehenden. Er wurde im Januar 2022 gerade mal um drei Euro erhöht, also um 0,67 Prozent. Die Preise sind aber um rund fünf Prozent gestiegen. Das heißt, die Armen sind am 1. Januar noch ärmer geworden. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kommt auf 650 Euro plus Miet- und Heizkosten für einen Alleinstehenden. Zudem müsste in der Rentenpolitik an vielen Stellschrauben etwas verändert und der Sozialstaat hin zu einer solidarischen Bürger*innenversicherung entwickelt werden, in die auch Selbstständige, Freiberufler*innen, Beamt*innen, Abgeordnete und Minister*innen einzahlen.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf?

Steuerreformen, die in den vergangenen Jahren zur wachsenden Ungleichheit geführt haben, müssten rückgängig gemacht werden. Es kann nicht sein, dass man einen ganzen Konzern erben kann, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftssteuer zu zahlen. Natürlich müsste auch der Spitzensatz bei der Einkommenssteuer wieder steigen. Er lag in den 1950er Jahren bei annähernd 95 Prozent. In dieser Zeit ist das deutsche Wirtschaftswunder entstanden. Ich vermag nicht ganz einzusehen, warum für jemanden, der mehr als eine Million Euro pro Jahr verdient, von da an nicht 60 oder 75 Prozent als Steuersatz gelten sollte.

Was Sie erwähnen, wirkt ernüchternd.

Ich bin eigentlich niemand, der im Pessimismus versinkt, sondern versuche, Mut zu machen. Viele Menschen sehen die Entwicklung ähnlich kritisch, ziehen aber nicht die Konsequenz, sich politisch zu engagieren, sei es in einer Partei oder in einer Gewerkschaft. Sie ziehen sich ins Private zurück und überlassen die Entscheidungen anderen. Wer gerade 40 Euro für Mobilität im Regelsatz der Grundsicherung hat, wird kaum nach Berlin fahren, um vorm Kanzleramt zu demonstrieren. Und eine Alleinerziehende hat auch andere Sorgen, nämlich wie sie am 20. des Monats noch was Warmes für die Kinder auf den Tisch bringt. Reiche dagegen sind politisch einflussreich. Das sehen wir am Lobbyismus.

Müsste die Mittelschicht aktiver werden?

Ja, aus Solidarität mit den Armen und von Armut Bedrohten.

Was tun Sie selbst?

Mit meinen Vorträgen, Artikeln, Büchern und Interviews versuche ich ein Umdenken zu bewirken. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion mit Christian Lindner, in der es vor mehreren Hundert Unternehmern im Düsseldorfer Industrieclub um die Erbschaftssteuer für Firmenerb*innen ging. Lindner meinte, niemand dürfe zum zweiten Mal besteuert werden. Ich habe entgegnet, dass wir ständig ein zweites Mal besteuert werden. Wenn ich meinem kleinen Sohn aus meinem versteuerten Einkommen ein Spielzeug kaufe, zahle ich Mehrwertsteuer – werde also ein zweites Mal besteuert. Außerdem wird im Falle eines Erbes niemand das zweite Mal besteuert, weil der Erblasser tot ist. Leistung soll sich zwar lohnen. Aber es ist ja keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Unternehmers zu sein. Nachher kamen einzelne Veranstaltungsteilnehmende zu mir und sagten, so hätten sie das noch nie gesehen.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Jahrgang 1951, war von 1998 bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Butterwegge gehört keiner Partei an, kandidierte aber 2017 für die Linke für das Amt des Bundespräsidenten. Zuletzt hat er mit seiner Frau Carolin Butterwegge das Buch „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ veröffentlicht.

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