Manchmal ist man kurz davor, zu platzen. Aber wie soll man damit umgehen, wenn die Wut übermächtig wird? Lässt sich so etwas wie innerer Frieden finden? Therapeut Heiko Cochius betreut in der Fachberatungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung der Diakonie Jungen und Männer, die sich nicht im Griff haben. Er hält eher wenig von kurzfristigen Strategien wie: „Geh doch mal ’ne Runde um den Block.“ Wer dauernd wütend ist und andere damit womöglich krank macht, muss tiefer in sich gehen – und das kann manchmal ziemlich schmerzhaft sein. Schuldgefühle helfen dabei wenig. Ein Interview.
Grafik: m23 Fons Hickmann
Heiko Cochius:
Es gibt verschiedene Faktoren, die darüber entscheiden, wie schnell wir wütend werden beziehungsweise wie wir mit unserer Wut umgehen. Ein Faktor sind die Gene. Manchen Babys macht es beispielsweise wenig aus, wenn man sie mit einer Nadel piekt, sie stecken das einfach weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Es gibt aber auch Babys, die empfinden den Pieks sehr intensiv und hören lange nicht mehr auf zu schreien. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass sich das auch nicht ändert, wenn wir erwachsen werden: Wer als Kind schnell erregbar war, ist es auch im späteren Leben. Daran kann man nicht viel ändern, damit muss man leben. Nicht viel ändern kann man auch an einem weiteren Faktor: den äußeren Umständen. Wer gerade arbeitslos geworden ist und kurz vor der Scheidung steht, reagiert auf Alltagsärgernisse meist weniger gelassen als der Familienvater, bei dem alles super läuft.
Heiko Cochius:
Ja. Die Psyche. Und da können wir ansetzen und Änderungen im Verhalten herbeiführen – und das manchmal schon nach dem ersten Besuch der Betroffenen bei uns in der Fachberatungsstelle. Denn es ist ja nicht so, dass die Betroffenen gerne Wutanfälle oder Gewaltausbrüche haben. Im Gegenteil: Sie leiden unter der Situation. Wenn dann auf der anderen Seite jemand kommt, der unvoreingenommen sagt: „Lassen Sie uns doch mal schauen, was da eigentlich los ist“, dann ist das für viele direkt eine riesige Entlastung. Natürlich ist das Verhalten der Kinder, Männer und Frauen, die zu uns kommen, schädlich, schrecklich und erschreckend. Aber wir zeigen uns nicht erschrocken. Denn Erschrockensein hilft nicht.
Heiko Cochius:
Gewalttätige Menschen haben in ihrer Kindheit in der Regel traumatische Erfahrungen gemacht, in denen sie sich ohnmächtig gefühlt haben. Weil sie sich nie wieder so fühlen möchten, reagieren sie aggressiv, wenn sie in eine Situation kommen, in der sie sich ähnlich ohnmächtig fühlen. Nicht ohne Grund werden ja Kinder, die von ihren Eltern Gewalt erfahren haben, später mitunter selbst gewalttätig. Der aggressive Teil der Persönlichkeit ist kurzsichtig und reagiert im Affekt. Deshalb kann man vorher noch so viel darüber sprechen, dass Aggressionen schädlich sind: Tritt der aggressive Teil der Persönlichkeit auf den Plan, ist das alles sofort wieder vergessen. Später, wenn sich der aggressive Teil der Persönlichkeit wieder zurückgezogen hat, kommt dann der der kritische Teil der Persönlichkeit zum Zug. Der sagt Dinge wie: „Das ist nicht in Ordnung, was ich da mache. Was tue ich meinem Kind an? Meine Frau ist von mir enttäuscht. Ich wollte nie so werden wie mein Vater.“ Vorstellen können Sie sich diese Persönlichkeitsanteile wie zwei Menschen, mit denen man sich unterhalten kann, die eigene Pläne und Ziele, eigene Absichten und Gefühle haben, als zwei Menschen, die im Widerstreit stehen.
Heiko Cochius:
Nicht ganz. Wenn ich mich nach einem Wutausbruch als Scheißkerl beschimpfe oder schlecht fühle, ändert das ja nichts an meinem Verhalten. Aber es gibt mindestens noch einen dritten Teil der Persönlichkeit, nämlich einen etwas sachlicheren und etwas ruhigeren, ausgeglichenen Teil, der sich das unvoreingenommen anschauen kann. Dieser Teil kommt beim Kampf zwischen den polarisierten Teilen aber häufig unter die Räder. Die therapeutische Kunst ist es, diesen Teil zu stärken und ihm mehr Gewicht zu geben. Denn das ist der Teil der Persönlichkeit, der letztendlich entscheidet: Gebe ich dem Wutanfall nach –oder nicht. Sich dem zu stellen, fordert von den Betroffenen viel Kraft und Mut: denn die meisten wissen ja nicht, dass sie als Kind eine Ohnmachtserfahrung gemacht haben.
Heiko Cochius:
Nein, Frauen können – das weiß man aus Untersuchungen– genauso gemein und sadistisch werden wie Männer, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, zum Beispiel wenn sie alleine zu Hause mit den Kindern sind und es keine soziale Kontrolle gibt. Aus der Polizeistatistik weiß man aber auch, dass Männer sehr viel mehr schwere Verletzungen verursachen. Frauen schreien dafür mehr. Man kann nicht an der Gewaltform festmachen, wie schwer ein Kind geschädigt wird, auch Anschreien und Herabwürdigen sind potenziell sehr schädigende elterliche Verhaltensweisen.
Heiko Cochius:
Wenn ein Elternteil immer wieder verbal aggressiv wird und dem Kind abwertende Dinge sagt, zum Beispiel wie enttäuscht es vom ihm ist, dann kann das Kind in seiner Entwicklung genauso Schaden nehmen, wie wenn das Elternteil körperliche Gewalt ausübt. Auch wenn die Eltern nur untereinander aufeinander losgehen, ohne dass das Kind jemals berührt wird, kann sich auf das Kind genauso negativ auswirken. Das wissen wir aus der Entwicklungspsychologie. Generell muss man also immer schauen, wie sehr das Kind in Angst und wie groß die Belastung für es ist – und nicht nur, wie die Eltern sich verhalten. Ich denke, jeder hat das schon erlebt: Ein Elternteil ist wütend und brüllt sein Kind im Supermarkt dermaßen an, dass man dabei als außenstehende Person ein ungutes Gefühl bekommt. Soll ich eingreifen? Diese Frage zu beantworten, ist sehr schwer. Vielleicht als Anhaltspunkt: Wenn ich Zeuge einer solchen Situation werde und mich innerlich aufrege, ist das immer ein guter Indikator dafür, den Mund zu halten. Denn durch eine aufgebrachte Intervention setzt man ein an sich schon überfordertes System nur noch mehr unter Stress. Wenn die Anfeindungen sehr drastisch sind, kann eine Lösung sein, sich danebenzustellen und wortlos zu signalisieren: „Ich sehe das.“ Die Polizei sollte man dagegen rufen, wenn schwere Misshandlungen stattfinden.
Heiko Cochius:
Es gibt Menschen, die nah der Erleuchtung sind und nie aus der Haut fahren. Die machen das gut, denn Wut ist durchaus ein Übel, an dem man arbeiten kann. Oft ist es aber so, dass Menschen sich nicht aufregen, weil sie ihre eigenen Bedürfnisse aufgegeben haben. Und das ist kein gutes Rezept, um glücklich zu werden, und auch kein gutes Konzept, um mit Kindern umzugehen. Denn Kinder machen erst einmal, was sie wollen, wenn man sich nicht wehrt, wenn man nicht auch einmal sagt: „Moment mal, so kann ich hier nicht sein, das ist nicht gut für mich. Leute, könnt ihr nicht mal ein bisschen Rücksicht nehmen?“ Für Kinder ist das wichtig, weil sie merken: „Ah, das ist ja jemand, der hat auch Bedürfnisse.“ Das können sie verstehen und nehmen dann auch Rücksicht. Fressen Eltern dagegen alles in sich hinein, kann es passieren, dass Mütter oder Väter dann doch irgendwann einmal explodieren oder ihr Kind vielleicht gar nicht mehr haben wollen, weil ihnen plötzlich alles zu viel ist. Also keine Sorge: Konflikte sind normal, denn sie tragen dazu bei, den anderen mit seinen Interessen und seinen Bedürfnissen zu würdigen.
Therapeut Heiko Cochius arbeitet in der Fachberatungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung der Diakonie. Die Fachberatungsstelle für Familien mit Gewalterfahrung unterstützt Kinder und Jugendliche, die in ihrem Leben familiäre Gewalt erfahren mussten: mit individueller Beratung, Diagnostik und Therapie für alle Familienmitglieder. Um auch Väter und Mütter als fürsorgliche und fördernde Eltern für ihre Kinder zu stärken.
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