Die größte Angst galt den Kindern
Für ihre Kinder würde sie alles tun, sagt Tanja Müller*. Und doch war ihr gemeinsames Leben nicht leicht. Immer wieder fand sich die Mutter von drei Kindern (16, 14 und 4 Jahre) in einer Partnerschaft wieder, in der ihr Gewalt angetan wurde. Heute ist alles anders.
Anfang 2020 eskalierte der Streit mit dem Partner so schlimm, dass die Polizei vor Tanja Müllers Tür stand und einschreiten musste. Ihre kleine Tochter kam für eine Nacht ins Düsseldorfer Kinderhilfezentrum – und bei der 37-Jährigen die Angst: Was, wenn mir meine Kinder weggenommen werden?
Wenn Familien in der Krise stecken, kann das Jugendamt die Mitarbeitenden des Krisenzentrums beauftragen. Seit 1997 gehen die Fachkräfte der Diakonie in die Familien und versuchen zu helfen – mit verschiedenen Hilfeprogrammen, die je nach Situation ausgesucht und vom Jugendamt in Auftrag gegeben werden.
Eines der wichtigsten Programme ist das Familienaktivierungsmanagement – kurz FAM. Das kommt dann zum Einsatz, wenn unklar ist, ob Kinder in einer Familie bleiben und wie die Bedingungen dort verändert werden können, so dass sie sich dort bestmöglich entwickeln. Uwe Hermanns ist einer der FAM-Berater des Krisenzentrums und arbeitet seit Anfang 2020 mit Tanja Müller und ihren Kindern zusammen. Da hatte sie sich bereits von ihrem gewalttätigen Partner getrennt.
Zu Beginn gibt es bei diesem Programm immer ein Gespräch, das die Mitarbeitenden des Krisenzentrums moderieren. Mit dabei ist ein*e Mitarbeiter* in des Jugendamts, die Familie und eben die beiden FAM-Arbeitenden und ein FAM-Beratender des Krisenzentrums, der im Hintergrund berät. Es sind immer zwei FAM-Arbeitende im Einsatz – nach dem Vier-Augen- Prinzip. Beim ersten Gespräch geht es darum, die Situation einzuschätzen, Ressourcen und Schwierigkeiten zu benennen und gemeinsam Aufträge oder Ziele zu formulieren. In den nächsten sechs Wochen kommen die beiden Beratenden je etwa zwei Mal pro Woche in die Familie, bei Bedarf auch öfter. Alle 14 Tage gibt es ein Auswertungsgespräch, bei dem mit allen Beteiligten besprochen wird, was sich in der Zwischenzeit getan hat.
Ein schwerer Anfang
Für Tanja Müller war die Zusammenarbeit am Anfang nicht leicht. Es falle ihr schwer, sich an neue Leute zu gewöhnen, sagt Uwe Hermanns. Auch fremde Menschen in ihre Wohnung zu lassen, sei für sie am Anfang nicht einfach gewesen. Dass nahezu alle Gespräche bei den Familien zuhause stattfinden, sei aber wichtig. „Wir wollen die Familien in ihrem gewohnten Lebensraum erleben. Gerade die Kinder verhalten sich oft natürlicher, wenn sie zuhause sind.“ Bei den Terminen geht es um verschiedene Dinge. Zum einen wollen die Beratenden mehr über die Situation in der Familie herausfinden. Dazu gehört Biografiearbeit und eine Spurensuche in der Familiengeschichte. Auch das Umfeld und Netzwerk der Familie wird genauer betrachtet.
Zudem werden Baustellen und Probleme identifiziert. Zum anderen suchen die Beratenden und die Familie aber auch nach Ressourcen und Stärken. „Nach Fähigkeiten, die aufgrund des hohen Stresslevels während der Krise nicht mehr genutzt werden, aber vorhanden sind“, sagt Uwe Hermanns. Es gehe darum, diese Fähigkeiten zu reaktivieren und zu erweitern.
An das hohe Stresslevel der vergangenen Jahre erinnert sich auch Tanja Müller. Vieles, das sie in der Zusammenarbeit mit dem Krisenzentrum gelernt habe, sei ihr nicht neu gewesen. „Es gibt einfach den Punkt, an dem man nicht mehr kann, an dem einem Kraft fehlt“, sagt sie. Im Familienalltag habe es immer weniger Kontakt gegeben. Alle hätten sich zuhause eher zurückgezogen, nicht mehr gemeinsam gegessen oder Zeit zusammen verbracht. „Mein Kopf war so voll, ich war auch froh, in Ruhe gelassen zu werden“, sagt die Mutter. Da habe sich mittlerweile viel verändert. Das gemeinsame Essen sei jetzt wieder fester Bestandteil des Alltags. Auch das gehöre zur Arbeit der FAM-Beratenden: „Wir wollen die Familienmitglieder wieder in einen positiven Kontakt miteinander bringen“, sagt Uwe Hermanns.
Die Probleme sind immer präsent
Wichtig war es für Tanja Müller aber auch, ihr eigenes Selbstbewusstsein zu stärken. „Ich bin am Ende kaum noch vor die Tür gegangen“, sagt sie. Sie sei eine eher ruhige, sensible Person – habe auch in der Partnerschaft selten widersprochen und sich viel gefallen lassen. Die Diakonie-Mitarbeitenden haben ihr schon früh empfohlen, selbst eine Therapie zu beginnen – bis sie sich dazu durchringen konnte, habe es aber gedauert. Es falle ihr schwer, über sich und ihre Probleme zu sprechen und sich Menschen zu öffnen.
Es gibt einfach einen Punkt, an dem man nicht mehr kann, an dem einem die Kraft fehlt.
Tanja Müller
Beim dem Programm des Krisenzentrums geht es nicht nur um die Familie als Ganzes, sondern auch darum, die Elternteile zu stärken und ihnen zu helfen, Kraft zu schöpfen. „Viele sind so im Problemtunnel, sehen nur noch die Krise“, sagt Uwe Hermanns. So sei es schwierig, die nötige Kraft zu finden, um diese anzupacken. „Wir helfen deshalb auch, etwas zu finden, das ihnen guttut, etwas, das Ausgleich schafft.“ Sei es ein Termin bei der Massage, beim Friseur oder einfach ein Nachmittag für sich allein, bei dem sie die Kinder gut versorgt wissen. Das bedeute aber nicht, dass die Beratenden selbst zum Babysitter werden. Es werde eher im Umfeld gesucht, wer dazu beitragen kann, die Familie zu entlasten – Freunde oder Großeltern etwa. Mehr auf sich selbst zu achten, fällt Tanja Müller schwer. „Ich schaue immer nur auf die Kinder. Wenn es denen gut geht, geht es mir auch gut.“
Sie ist selbst im Heim aufgewachsen. Auch deshalb sei die Angst und der Respekt vor dem Jugendamt groß gewesen. Und die drohende Inobhutnahme ein Weckruf und Antrieb, etwas zu verändern. Uwe Hermanns beschreibt die Dynamik in der Zusammenarbeit mit den Familien in der Krise ähnlich. Das Jugendamt sorge für einen gewissen Druck. „Wir können dann so ein bisschen die Guten sein“, sagt er. Die, die da sind, um die Familie zu unterstützen, wirklich etwas zu verändern und ein Eingreifen des Jugendamts zu verhindern. Auch wenn sie trotzdem nie wegsehen, sollte es in der Familie weiter zu Gewalt oder Gefährdung der Kinder kommen.
Mein Kopf war so voll. Ich war auch froh, in Ruhe gelassen zu werden.
Tanja Müller
Die Mitarbeitenden achten darauf, auch die Kinder so gut es geht einzubeziehen. Für die Kleinste in dieser Familie bedeutet das eher, dass es Gespräche mit anderen Personen gibt, die mit ihr zu tun haben. Mit dem Kindergarten, Kinderärztin oder -arzt und dem restlichen Umfeld. Die beiden Älteren konnten aber auch selbst ihre Sicht auf die Situation in der Familie schildern und Wünsche äußern, was sich verändern soll. Zuerst sei auch das nicht so einfach gewesen. „Die Kinder sind sehr auf mich fixiert. Die Angst, nicht bei mir bleiben zu können, war auch bei ihnen groß.“ Besonders der Große habe lange gebraucht, sich zu öffnen. Ein Wunsch der Kinder war trotzdem von Anfang an klar: umziehen – eine neue Wohnung finden. „Wir haben zwölf Jahre in der alten Wohnung gewohnt – immer mit Gewalt“, sagt Tanja Müller. Die Erinnerungen waren dort immer präsent.
Mittlerweile wohnt die Familie nicht mehr dort. Das hat für viel Entlastung gesorgt. Nach sechs Wochen läuft das FAM-Programm für gewöhnlich aus. Das wirke oft als Beschleuniger für eine Veränderung, sagt Uwe Hermanns. So werde deutlicher, dass Probleme schnell angepackt werden müssen und nicht weiter aufgeschoben werden können. Bei Tanja Müller haben sich alle zusammen aber dazu entschieden, die Zusammenarbeit fortzusetzen. Seitdem gibt es zweimal die Woche einen Besuch der beiden Mitarbeitenden. „Es war schnell eine gute Basis und viel Bereitschaft da“, sagt Uwe Hermanns. Da wollten Beratende und Familie weiter dranbleiben.
Tanja Müller sagt, es habe sich alles verändert in den vergangenen anderthalb Jahren. Nicht nur die Trennung vom gewalttätigen Partner. Auch die neue Wohnung sei ein großer, wichtiger Schritt gewesen. Und das Miteinander in der Familie sei nun ein anderes. „Ich weiß nicht, wie es sonst mit uns weitergegangen wäre“, sagt sie. Immer weiter bergab, vermutet sie. Ob die Kinder dann wohl noch bei ihr leben würden? Ihr nächstes Ziel sei es nun, dass es auch mit dem Großen wieder mehr bergauf gehe. Der habe die Schule immer weiter vernachlässigt in den letzten Jahren, irgendwann sei er gar nicht mehr hingegangen. Uwe Hermanns habe ihn aber motivieren können, wieder weiterzumachen. Die Mutter hofft, dass er nun seinen Abschluss nachholt und eine Ausbildung beginnt. Und sonst, sagt sie, sei alles gut.
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Unser Krisenzentrum
Das Familienaktivierungsmanagement ist nicht das einzige Hilfsprogramm des Krisenzentrums. Es gibt auch:
- ein Clearing-Programm, bei dem über einen Zeitraum von drei Monaten die Umstände in einer Familie beobachtet
- werden, um später Ziele zu formulieren.
- Das sogenannte Rückführungsmanagement wird eingesetzt, wenn die Kinder aus der Familie genommen werden mussten und wieder zurückkehren können.
- Pädagogisch begleitete Eltern-Kind-Kontakte finden statt, wenn die Beziehung besonders schwierig ist und die Kinder nicht mehr beiihren Eltern leben.
- Kurzinterventionen bei häuslicher Gewalt sind dazu da, die Lage kurzfristig einzuschätzen und Impulse zur Veränderung zu geben.
Kleine Hilfen ...
… können echte Perspektiven schaffen: Die Familienhilfe der Diakonie Düsseldorf unterstützt die von ihr betreuten Familien in akuten Notlagen schnell und unbürokratisch mit Lebensmitteln, Windeln oder einem Kinderwagen. Über Spendenmittel werden außerdem Freizeiten für Familien ermöglicht, die sich das selbst nicht leisten können – von Tagesausflügen bis hin zu mehrtägigen erlebnispädagogischen Aufenthalten in einer Jugendherberge. Gefördert werden auch Begabungen von Kindern, zum Beispiel über Malkurse, sportliche Aktivitäten oder Angebote im schulischen Bereich. All das machen unsere Spender*innen möglich. Daher unterstützen Sie mit Ihrer Weihnachtsspende in diesem Jahr Familien in Not. Mehr Informationen dazu gibt es im Experteninterview mit Ute Dröge von der Familienhilfe der Diakonie.