Jemanden kennenzulernen ist gar nicht so leicht – das gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Jennifer Wiche und Sven Kuhlmann leben seit sechs Jahren als Paar zusammen. Beide haben Betreuungsbedarf und werden von „In der Gemeinde Leben“ unterstützt. Das hält sie aber nicht davon ab, eine ganz normale Beziehung zu führen. Ein Hausbesuch.
Fotos: Jana Bauch, Text: Marc Latsch
Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Düsseldorf-Wersten. Links hinter dem Fenster sind von der vielbefahrenen Hauptstraße die Motorengeräusche zu hören, rechts sitzen Jennifer Wiche und Sven Kuhlmann auf einem grauen Sofa. Vor ihnen ein großer Flachbildfernseher, über dem eine Fortuna-Flagge hängt, hinter ihnen ein kleines Wandregal mit Kassetten, CDs und Fotos. Seit sechs Jahren wohnen sie hier zusammen, mittlerweile mit zwei Katzen. Ein ganz normales Pärchen, mit einem kleinen Unterschied. Beide haben Betreuungsbedarf. Kennengelernt haben sie sich vor über 30 Jahren in der Mosaikschule, einer Förderschule für geistige Entwicklung.
„Ich wurde gemobbt und er hat mich immer in Schutz genommen“, sagt Wiche über ihre Schulzeit. Kuhlmann wird erst ihr Beschützer und später ihr Freund. Er ist zwei Jahre älter, fängt bereits an, bei Henkel zu arbeiten, und hat eine eigene Wohnung. Wenn Wiche nun Stress in der Wohngruppe hat, geht sie heimlich zu ihm. Ein halbes Jahr lang bleiben sie ein Paar, dann endet die junge Liebe. Beim Sommerfest von „In der Gemeinde Leben“ (IGL) treffen sie sich Jahrzehnte später wieder.
Die IGL ist ein Kooperationsprojekt der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und der Diakonie mit 15 Standorten und rund 200 Klient*innen in Düsseldorf. Anstatt Sonderwelten am Rand der Gesellschaft zu schaffen, geht es in dem Projekt darum, Menschen mit Behinderungen ein möglichst eigenständiges und integriertes Leben zu ermöglichen. Damit das gelingt, kümmert sich die IGL um die nötige Unterstützung. „Soziale Teilhabe ist unsere Kernaufgabe“, sagt Geschäftsführer Andreas Diederichs. Schräg gegenüber der kleinen, aber geräumigen Wohnung von Wiche und Kuhlmann liegt das lokale Büro der IGL mit ihren Betreuer*innen. Wenn nicht gerade Treffen oder Gespräche anstehen, organisiert das Pärchen seinen Alltag eigenständig. Gerade wurde noch gefrühstückt, sich im Bad fertig gemacht, jetzt sitzt der Reporter auf dem Sofa und stellt Fragen zur Beziehungsgeschichte. Wiche erzählt längere Anekdoten, Kuhlmann ergänzt oder widerspricht mit kurzen Einschüben.
Als die beiden sich beim Sommerfest wiedersehen, ist Jennifer Wiche eigentlich noch in einer anderen Beziehung. Da kriselt es aber gerade. Sven Kuhlmann gibt ihr seine Handynummer, für alle Fälle. Noch am selben Abend ruft sie ihn erstmals an. Schnell wird der Freund zum Ex- Freund und der alte Ex zum neuen Partner. Erst lebt Wiche noch weiter in ihrer WG, nach einem Jahr zieht sie ganz zu ihm. „Allein ist sowieso blöd. Was macht man da den ganzen Tag“, sagt Kuhlmann dazu heute.
Liebe ist ein Dauerthema
Es gibt in Düsseldorf auch Singlebörsen, die Menschen mit Beeinträchtigung dabei helfen sollen, passende Partner* innen zu finden. IGL-Geschäftsführer Diederichs hält davon nicht viel, wie er am Telefon sagt. „Wir wollen nicht gezielt Menschen mit Beeinträchtigung mit anderen Menschen mit Beeinträchtigung zusammenbringen.“ Doch, wie überall, finden natürlich am einfachsten diejenigen zusammen, die sich auch regelmäßig begegnen – am Arbeitsplatz, im Verein oder eben im IGL-Umfeld. Das gezielt zu fördern, widerspreche zwar dem Gedanken des Aufbrechens von Sonderwelten, Liebe sei aber natürlich ein Dauerthema in der Betreuung. „Das spielt die gleiche Rolle wie bei allen Menschen.“
Auch Wiche und Kuhlmann arbeiten zusammen. Mit dem Piksl-Labor der IGL besuchen sie Wohnheime und Wohngruppen innerhalb und außerhalb Düsseldorfs, um den Menschen dort den Umgang mit dem iPad beizubringen. Für Wiche war das die Rettung, weil sie sich zuvor in der Behindertenwerkstatt regelmäßig unterfordert gefühlt hat. Kuhlmann trauert immer noch ein wenig seinem Job im ersten Arbeitsmarkt nach, den er schließlich wegen seiner Rückenprobleme aufgeben musste. „Das Gefühl ist schon anders, wenn du dein eigenes Geld verdienst und nicht von euren Steuern leben musst“, sagt er.
Mit dem Begriff „Behinderung“ kann Sven Kuhlmann nichts anfangen. Allein ihn zu hören, konnte ihn früher aus der Fassung bringen. Aber mittlerweile habe er gelernt, sein Temperament besser in den Griff zu bekommen, sagt er. Für ihn ist es ein Stempel von außen, der ihm das Arbeits- und Liebesleben erschwere. „Normale“ Frauen wollen so mit ihm nichts zu tun haben, „normale“ Arbeitgeber ihn nicht einstellen. „Mir sieht man die Behinderung nicht an. Eigentlich bin ich voll da. Nur die stempeln einen immer so ab. Du bist behindert, du kannst nichts.“ Er habe eben eine Einschränkung. Nicht mehr und nicht weniger.
Nach der Schule und der Trennung verlieren sich Wiche und Kuhlmann aus den Augen. Beide heiraten, beide lassen sich scheiden. Sven Kuhlmann wird Vater einer Tochter, die heute bei seinen Eltern lebt. Jennifer Wiche reichten da immer schon ihre Katzen. Als sie sich wiedertreffen, merken sie, dass sie sich gegenseitig guttun. „Wir haben kaum Streit, wir diskutieren eher“, sagt Wiche. „Sie ist liebevoll und nicht so kompliziert wie andere Frauen“, sagt Kuhlmann.
Heiratsantrag im Kino
Sven Kuhlmann ist nicht der Mann, der dauerhaft Romantik ausstrahlt. Für einen besonderen Moment vor einem Jahr hat er sich aber wirklich etwas überlegt. Bei einem Netzwerktreffen von Piksl bittet er seine Freundin in einem dafür angemieteten Kino auf die Bühne. Dort kniet er sich vor allen hin und fragt sie, ob sie ihn heiraten möchte. Sie möchte. „Da muss man eine Überraschung planen“, sagt er heute pragmatisch darüber. Wiche spricht lieber über die Tränen, die ihr an diesem Tag vor Freude kamen. Auch ein erklärter Sonderwelten-Gegner wie Andreas Diederichs muss zugeben, dass die Beziehung der beiden IGL-Klient*innen gewisse Vorteile hat.
Je nach Einschränkungsgrad müsse man sonst immer auch ein mögliches Machtgefälle in einer Beziehung beachten und zudem sei es für nicht auf Betreuung angewiesene Partner* innen häufig schwierig, sich darauf bei ihrem Gegenüber einzustellen. Wiche und Kuhlmann umschiffen diese Probleme. Beide sind so eigenständig, dass es kein Machtgefälle gibt. Und beide wissen, wie es ist, wenn jemand im Alltag hilft. „Das Label ist ein Problem“, sagt Diederichs über das Dating bei Menschen mit Beeinträchtigung. Anders als bei einer psychischen Erkrankung oder Suchterfahrungen sei es gesellschaftlich ungewohnt, wenn nur eine*r der Partner*innen betroffen sei.
Bei aller Harmonie: Nicht immer sind sich Jennifer Wiche und Sven Kuhlmann im Alltag einig. Manchmal zockt der leidenschaftliche Fortuna-Fan Kuhlmann ein bisschen zu viel Fifa, schaut ein bisschen zu viel Fußball und auch seine Vorliebe für Actionfilme teilt seine Verlobte nicht. Die geht wiederum manchmal ein bisschen lieber in die Natur, gerne auch mit Mia, dem Hund ihrer Betreuerin. Um ihre Katzen kümmern sich aber beide gerne. Ursprünglich hatte jede*r eine, jetzt seien sie aber so lange zusammen, dass Kira und Lutze ihnen beiden gehörten, sagt Wiche.
Das Gespräch ist fast zu Ende, da traut sich auch Kira, die weniger Scheue der beiden, zum fremden Besuch ins Wohnzimmer. Während die Katze über Tisch und Sofa läuft und sich streicheln lässt, spricht Sven Kuhlmann über seinen größten Wunsch. Nach Paris würde er gerne mal reisen und dort auch am liebsten gleich ein paar Wochen verbringen. Das sei allerdings finanziell nicht drin. „Aber sind ja nur Träume“, sagt er dann.
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