Wo die wilden Kerle trainieren

Bei den sogenannten Kampfesspielen gehen Jungs auf Tuchfühlung. Im Kampf miteinander sollen sie Selbstvertrauen tanken und Regeln der Fairness lernen. 

Jungen bilden einen Kreis

Text: Thomas Becker

Es ist Rauschzeit im stickigen Keller. Die Luft ist schweißgetränkt. Auf allen Vieren krauchen fünf Jungs über Schaumstoffmatten, sie schnüffeln und raunen, als erwachten die Hormone im Frühling. „Die Wildschweine riechen den Duft der Ladys und den Trüffel im Wald“, ruft einer der Trainer, die an diesem Nachmittag die Kampfesspiele leiten. Die Jungs pressen ihre Schultern gegen die der anderen, lassen Muskeln spielen. Und dann die Frage, auf die alle gewartet haben, die schon einmal bei den Kampfesspielen mitgemacht haben: „Seid ihr bereit, miteinander zu kämpfen?“

Die Jungs schlagen ein, klatschen sich ab, verneigen sich, ohne Worte zu verlieren. Auf allen Vieren bringen sie sich in Stellung. „Aktiviere deine Urkraft“ und „Aktiviere deinen Chi“, rufen die Trainer den Jungs zu. Sie sollen ihre Mitspieler von der Matte schieben. Und so purzelt einer nach dem anderen herunter, bis Pablo*, elf Jahre alt, als Letzter im Ring verbleibt. „Mega“, lautet das Urteil der anderen, als sich alle wieder im Kreis sammelt und abklatschen.

Kampfesspiele in Wersten

Rund zwei Stunden rangeln und kämpfen sie miteinander. Sie feuern sie sich an und „feiern sich ab“, wie Malte Schulz es ausdrückt, Sozialpädagoge, Kampfesspiele-Trainer und Leiter der Jungenarbeit „Allemann“ der Diakonie Düsseldorf. Seit einigen Jahren schon bietet die Diakonie die Kampfesspiele an; meist in den eigenen Räumen am Oberlinplatz in Wersten, aber auch in Schulen und im Jugendarrest. Das Angebot richtet sich in der Regel an Kinder und Jugendliche, die beim Jugendamt auffällig geworden sind und Anspruch auf „Hilfen zur Erziehung“ haben.

Daheim herrschten teils hochgradige Konflikte,  sagt Malte Schulz. Oft mangele es an männlichen Vorbildern; die Hemmschwelle zur Gewalt und die Frustrationsschwelle der Jungs seien niedrig. In den Kampfesspielen sollen die Jungs daher lernen, fair miteinander umzugehen. Sie sollen ihre Kraft und Dynamik positiv nutzen und auf „ehrabschneidende Kommentare“ verzichtet. Kein Szenario also wie im Hollywood-Film „Fight Club“, bei dem die Gewalt keine Grenze kennt, sondern mehr ein betreutes Kämpfen in einem „Schutz- und Schonraum“, sagt Malte Schulz. „Wir kämpfen miteinander, nicht gegeneinander.“

Alle können jederzeit "Stopp" sagen

Vor der Rangelei auf den Gymnastikmatten besprechen Trainer und Spieler die Regeln. Schläge, Tritte und Würgegriffe seien verboten, sagt Marcel Uhl, der als Sozialpädagoge und Kampfesspiele-Trainer heute ebenfalls an den Spielen teilnimmt. Alle hätten stets die Möglichkeit, stopp zu sagen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Es sei ein Zeichen des Respekts, die Signale des Gegenübers zu erkennen. Und dahinter stehe auch ein Menschenbild. „Wir glauben daran, dass jeder ein Gefühl dafür hat, was richtig und falsch ist. Genau dieses Gefühl wollen wir aktivieren“, sagt Marcel Uhl. In einem Kampf auf offener Straße nimmt niemand einem die Entscheidung ab, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Da sei der innere Schiedsrichter bei jedem gefordert.

„Wenn jemand da liegt, blutend, und ein anderer geht hin und gibt dem noch eine – ist das falsch oder richtig?“, fragt Marcel Uhl. „Falsch“, antwortet Fabian, elf Jahre alt. „Genau“, bestärkt ihn der Sozialpädagoge mit den raspelkurzen Haaren. „Das checkt man sofort.“ Er macht eine ausladende Armbewegung, die einen Schlag andeutet. „Wenn du jemanden k. o. gehauen hast und du haust noch fünfmal rein, dann bist du ein Asi. So einfach ist das.“

Daher die Übung mit den Wildschweinen, die eine echte Kampfsituation simuliert. Nach einer Runde im Ring fragen die Trainer, ob jemand das Gefühl hatte, dass etwas Unfaires vorgefallen sei? Nein, sagt Mike trocken. Zwar habe er einen Ellbogen abbekommen, aber das sei nicht so schlimm gewesen und auch nicht mit Absicht geschehen.

Jungen berühren sich an den Händen
Jungen ringen miteinander

Einfach mal alles raushauen

„Genau deswegen sagen wir: Kampfesspiele sind ein Geschenk“, erklärt Marcel Uhl. Es gebe für Jungs nur ganz selten die Möglichkeit, „alles rauszuhauen“ und gleichzeitig Teil einer Gruppe zu sein. Dieses bestärkende Gefühl des Miteinanders sollen die Kinder in mehreren Übungen erfahren – etwa wenn sie zu Beginn im Kreis zusammenstehen und sich in die Augen schauen.

„Jungs, mit denen wir arbeiten, sind regelrecht hungrig danach, gesehen zu werden“, erklärt Malte Schulz. Dahinter stehe der Wunsch nach Anerkennung. Manchmal tasteten sich die Jungs regelrecht mit Blicken ab – auch eine Form der Berührung durch die sich Kinder und Jugendliche öffneten. Das Prinzip „Ich sehe dich“ liege daher der gesamten Jungenarbeit zugrunde. Die drei weiteren Grundsätze und Botschaften an die Kinder und Jugendlichen lauten: „Du bist okay“, „Du bist willkommen“ und „Wir halten dich aus“. Wer diese Prinzipien als Haltung im Umgang mit Jungs verinnerliche, finde früher oder später einen Zugang zu ihnen, sagt Malte Schulz.

Yeah, guter Catch, echt nice.

Zurück im Keller, wo die nächste Übung ansteht. Trainer und Spieler werfen sich einen Boxhandschuh zu. Wieder gilt es, Blickkontakt aufzunehmen und jetzt auch den Namen des Gegenübers zu rufen. Wer ungenau passt, muss drei Liegestützen machen – und selbst erkennen, wann das angemessen ist. Um die Jungs zu unterstützen, werfen sich auch die Trainer zu Boden, um Liegestütze zu machen. Nach einer Weile fordern die Mitspieler auf, es ihnen gleichzutun, bis der Boxhandschuh wieder durch den Raum fliegt: „Yeah, guter Catch“, feuern die die Trainer die Jungs an. „Echt Nice“.

Anderthalb Stunden geht das so weiter. Es wird geschrieen, gerempelt und gelacht. Als die Kampfesspiele enden, trainieren einige Jungs weiter am Boxsack. Die anderen ruhen sich oben im Aufenthaltsraum aus, spielen Kicker, sitzen auf dem Sofa oder essen Nudeln in der Küche. Ja, sie hätten schon oft Gewalt erlebt, erzählen sie. Auf dem Schulhof gebe es regelmäßig Schlägereien, meint Niklas. „Wenn du nicht aufpasst, bekommst du eine Bombe.“ Also einen Schlag ins Gesicht. Pablo erzählt, dass er kürzlich in eine Prügelei verwickelt gewesen sei. Unfair habe er aber nicht agiert und niemanden verletzt. Die Lektion aus dem Keller scheint er verinnerlicht zu haben.

Kampfesspiele: Das Konzept stammt von Josef Riederle, dem Gründer des „Kraftprotz Bildungsinstituts für Jungen und Männer“ mit Sitz in Kiel. Ziel ist die praktische, verantwortliche und reflektierende Arbeit zur Gewaltprävention mit Jungen abseits von gut gemeinten Ansprachen, Ermahnungen, Appellen, Verboten oder Strafen.

* Alle Namen der Kinder geändert

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