Die Sozialwissenschaftlerin und Politologin Dr. Monika Schröttle erklärt, woran sich sexuelle Übergriffe erkennen lassen, warum so viele Betroffene schweigen und was sich seit der #Metoo-Debatte verändert hat.
Frau Dr. Schröttle, wann wird aus Berühren eine sexuelle Belästigung?
Von sexueller Belästigung sprechen wir immer dann, wenn die oder der Betroffene eine Berührung als Grenzüberschreitung wahrnimmt. Tatsächlich wissen die meisten Menschen sehr genau, wann das der Fall ist, also eine Person unangenehm berührt ist. Das liegt auch an unseren Spiegelneuronen, die uns dabei helfen, Gefühle und Stimmungen anderer Menschen einzuordnen. Deshalb treten wir automatisch einen Schritt zurück, wenn wir merken: Das ist dem Gegenüber jetzt zu viel. In Bezug auf die Einordnung einer Handlung als sexuelle Belästigung gibt es übrigens keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. In einer Studie der Uni Bielefeld bekamen Frauen und Männer verschiedene Situationen von Grenzüberschreitungen und Belästigungen geschildert. Interessanterweise haben beide Geschlechter sehr ähnlich beurteilt, ab welchem Punkt die Grenze überschritten war.
Wie wirkt sich ein sexueller Übergriff auf das Leben der Betroffenen aus?
Das ist ganz unterschiedlich. Bei sexuellen Belästigungen ist es zum Teil so, dass Betroffene das wegstecken. So nach dem Motto: Naja, kommt vor, ist nichts Neues. Bei massiveren oder länger andauernden oder mit Machtmissbrauch verbundenen Grenzüberschreitungen, kann es dagegen zu massiven psychosomatischen Beschwerden kommen. Bei sexueller Gewalt sehen wir oft ganz starke gesundheitliche Auswirkungen, die auch langfristig sein können.
Indem Betroffene früh und deutlich sagen: ‚Das mag ich jetzt nicht.’ oder ‚Das geht mir jetzt zu weit’ lässt sich übergriffiges Verhalten oft schnell beenden.
Sie gehen davon aus, dass rund 60 Prozent der Frauen schon einmal sexuell belästigt worden sind, sagen aber auch, dass die Dunkelziffer womöglich deutlich höher ist. Warum schweigen so viele Frauen und Männer über das, was ihnen widerfahren ist?
Viele Betroffene, die wir für unsere Studien befragt haben, sagen im Nachhinein: Ich habe einfach so lange gebraucht, bis ich überhaupt verstanden habe, worum es geht und dass das hier jetzt wirklich ein Übergriff ist. Wobei Männer, die betroffen waren, die Übergriffe viel schneller als Angriff empfunden und sich dagegen gewehrt haben. Gemeinsam ist beiden Geschlechtern aber das Empfinden eines Peinlichberührtseins: Jemand hat unsere Intimgrenze überschritten – und dieses Erlebnis möchten wir nicht unbedingt anderen mitteilen. Die Täterinnen und Täter wissen das und werden deshalb erst nach und nach deutlicher in ihrem Verhalten.
Wie kann man sich wehren?
Indem Betroffene früh und deutlich sagen: ‚Das mag ich jetzt nicht.’ oder ‚Das geht mir jetzt zu weit’ lässt sich übergriffiges Verhalten oft schnell beenden. Aber das ist schwer, wenn sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden, etwa auf Pflege angewiesen sind oder Sorge haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Außerdem sind Menschen unterschiedlich gut darin, ihren Schutzraum zu wahren. Das hat auch etwas mit der Sozialisation zu tun: Wenn ich in einer Familie aufwachse, in der meine Grenzen und Intimbereich geschützt sind, ist es viel leichter zu merken: Hallo, der tritt mir jetzt zu nah.
Für Menschen mit Behinderungen, die es gewohnt sind, etwas bei der Pflege angefasst zu werden, ist es oft sehr viel schwieriger zu sagen: ‚Wer mich anfasst, hat mich gefälligst erst zu fragen, ob er das darf.’ In unseren letzten Studien haben wir festgestellt, dass Menschen mit Behinderungen deutlich öfter sexuelle Übergriffe und andere Formen von Gewalt erleben als Menschen ohne Behinderungen.
Was können Menschen tun, die beobachten, dass ein anderer jemanden belästigt.
Wichtig ist, der Intuition zu folgen und nicht zu sagen: ‚Ne, da spinne ich jetzt.’ Das Gefühl trügt meist nicht. Außerdem gibt es Beratungsstellen, an die sich nicht nur Betroffene wenden können, sondern auch das soziale Umfeld wenden kann, oder an das bundesweite Hilfetelefon für von Gewalt betroffene Frauen. Externe Beratung ist auch wichtig, damit spätere Aussagen gerichtsverwertbar sind.
Aber sollten Richterinnen und Richter nicht mittlerweile sensibilisiert sein?
Das ist ganz unterschiedlich. Aber mein Eindruck ist, dass einigen die Erfahrung fehlt, das Verhalten von Opfern sexualisierter Gewalt richtig zu deuten. Eine Traumatisierung kann dazu führen, dass sich die Bilder verschieben, die Menschen von der Tat gespeichert haben. Deshalb schildern Opfer von Gewalt das Erlebte beim zweiten oder dritten Mal oft anders als beim ersten Mal. Das bedeutet nicht, dass sie lügen – aber leider wird das immer noch viel zu häufig angenommen. In dem Bereich müsste es dringend mehr Schulungen für Richterinnen und Richter geben. Die Polizei ist dagegen erstaunlich gut ausgebildet und reagiert inzwischen sehr klar – auch auf Belästigungen im öffentlichen Raum, wenn diese ein bestimmtes Maß erreicht haben.
Hat die #Metoo-Debatte an der Situation etwas geändert?
Sexuelle Gewalt wird schon seit vielen Jahrzehnten thematisiert. Ich glaube aber, dass bei den jungen Frauen eine richtige Empörung hochgekommen ist: Was, so patriarchalisch ist es bei uns noch? Und ich kann mir schon vorstellen, dass dadurch ein Prozess der weiteren Sensibilisierung einsetzt. Auch viele Männer sind überhaupt nicht damit einverstanden, dass andere Männer die Intimgrenzen anderer überschreiten oder machtmissbräuchlich handeln. Insofern wäre es gut, gemeinschaftlich noch deutlicher an die Täterinnen und Täter heranzutreten und ihnen die Grenzen aufzuzeigen.
Dr. Monika Schröttle leitet die Forschungsund Beobachtungsstelle Geschlecht, Gewalt, Menschenrechte (FOBES) am Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg (IfeS).