„Die Fülle des Menschseins“
Das Gespräch führte der Düsseldorfer Journalist Thomas Becker
Foto: Thomas Koy
Herr Professor Schmid, als philosophischer Seelsorger waren Sie regelmäßig ehrenamtlich in einem Krankenhaus im Einsatz. In Ihrem Buch „Von der Kraft der Berührung“ beschreiben Sie, dass alte Menschen manchmal Ihre Hand nicht mehr loslassen wollten. Woran lag das?
Für sie war die Berührung eine Aufhebung der Einsamkeit. Oft ist es so, dass wenn man die Hand hält, ein direkter Kontakt entsteht. Es fließt weitaus mehr Energie, als wenn wir etwa auf eine Distanz von fünf Metern miteinander reden. Das zeigt schon, dass es gute Gründe dafür gibt, sich Berührung zu wünschen: Durch sie erhalten wir mehr Energie, und die können gerade ältere Menschen gebrauchen.
Welche Kraft geht noch von Berührungen aus?
Wenn sie willkommen und gewünscht ist, macht sie Menschen zuversichtlich und mutig und gibt ihnen neben Energie auch Selbstvertrauen. Sie kann zudem Beziehung schaffen; das wissen alle, die den Beginn einer Liebesbeziehung erlebt haben, die oft mit einem Kuss anfängt. Neurobiologen haben herausgefunden, dass Berührung uns stärkt, weil der Körper Hormone wie Oxytocin ausschüttet. Man kann es auch künstlich erzeugen, als Spray in der Apotheke kaufen und einem nahestehenden Menschen in die Nase sprühen, damit der sich einem stärker verbunden fühlt. Ich rate aber dazu, nicht so viel Geld auszugeben, sondern es auf konventionelle Weise zu versuchen. Das dürfte auch anhaltender sein. (lacht)
Das Immunsystem bildet ohne Berührung kaum Widerstandskraft gegen Infekte aus
Forscher haben herausgefunden, dass körperliche Berührung auch das Immunsystem stärkt. Inwiefern?
Mit der bloßen äußeren Berührung entstehen biochemische Wirkungsketten im Körper, die bei Babys und Kleinkindern maßgeblich am Aufbau des Immunsystems beteiligt sind. Es ist eine noch recht junge Erkenntnis, dass das Immunsystem ohne Berührung kaum Widerstandskraft gegen Infekte ausbildet. Früher war die Kindersterblichkeit in Findelhäusern daher exorbitant hoch. Aber auch bei Erwachsenen ist es sehr wichtig, das Immunsystem durch Berührung zu stärken. Es ist entscheidend als Bollwerk gegen die Entstehung von Krebs. Es spricht also einiges dafür, Berührung bloß nicht zu vernachlässigen und auf eine Grundversorgung zu achten.
Berührung schafft Zusammenhänge
Wie gelingt das Menschen, die allein und in keiner Partnerschaft leben?
Das Schönste ist natürlich, wenn Berührung mit Liebe und Freundschaft einhergeht. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten: Auch beim Streicheln von Hunden können Endorphine ausgeschüttet und Stress abgebaut werden. Hunde lieben nichts mehr als Berührung und kennen da fast keine zeitliche Grenze. Auch Körpertherapien – Massagen etwa – bieten Berührungen. Und in jeder mittleren und größeren Stadt gibt es Kuschelpartys, bei denen man Berührung mit wildfremden Menschen üben kann. Das sind keine sexuellen Veranstaltungen, es geht nur um Berührung. Jedem steht zudem der Gang zum Friseur zur Verfügung, bei dem die Kopfhaut berührt wird. Und dann ist für alle die Berührung durch Wasser möglich, beim Baden und Duschen.
Sie schreiben, „das ganze Menschsein“ hänge von Berührung ab. Worin besteht diese Tiefendimension?
Mir liegt nicht so sehr an der Theorie, sondern an der Praxis. Menschen, die eine ganze Weile keine Berührung erlebt haben, keine streichelnde Hand, keine Umarmung, spüren oft eine Verunsicherung und Sinnleere. Andererseits gilt: Ich spüre das Leben, weil ein anderer Mensch mich berührt und ich umgekehrt andere Menschen berühren darf. Berührung schafft Zusammenhänge. Sie kann jedoch auch sehr gewaltsam sein. Es gibt eine große Spannweite, und wir haben heute Grund dafür, uns mit unwillkommener und gewaltsamer Berührung auseinanderzusetzen, weil die offenkundig ein viel größeres Ausmaß hat als bisher angenommen.
In der seelischen Berührung gibt es eine große Spannweite
Beispiele aus jüngster Zeit sind die MeToo-Debatte und sexuelle Gewalttaten gegenüber Minderjährigen. An welche weiteren Formen denken Sie?
Ich bin 67 Jahre alt und habe noch eine Kindheit erlebt, die teilweise gewaltsam war. Wir sind von Autoritätspersonen wie der Lehrerin an der Grundschule geschlagen worden. Das zeigt: Die Kraft der Berührung kann auch eine negative sein, die Menschen bedrückt, niederdrückt und demütigt. Die Nötigung zur Berührung ist ein Akt der Gewalt. Unerwünschte Berührungen erzeugen Scham oder gar Abscheu. Sie blockieren Kräfte und rauben einem Menschen Energien, die nicht so ohne weiteres wiederzugewinnen sind.
Welche Formen der Berührung gibt es neben der körperlichen?
Zum einen die seelische Berührung. Wenn ich tief in meinen Gefühlen von etwas berührt bin, kann es das ganze Menschsein durchdringen. Seelische Berührung ist verbunden mit Gefühlen; etwas regt unsere Energie an, in der Erotik zum Beispiel. Auch bei der seelischen Berührung gibt es eine große Spannweite. Wenn uns etwas außerordentlich berührt, kann es Gänsehaut erzeugen. Abschreckendes wie Ekel oder Leidvolles dagegen kann uns sehr unangenehm berühren.
In Ihrem Buch erwähnen Sie zwei weitere Formen: die geistige und transzendente Berührung. Was verstehen Sie darunter?
Geistige Berührung ist die Berührung in Gedanken – etwa durch ein Gespräch oder ein Buch, das einen nachhaltig beschäftigt. Wir nehmen die Gedanken eines Autors auf, den wir womöglich nicht einmal kennen. Es kann auch bei der Lektüre eines Sachbuchs passieren, dass wir außerordentlich berührt werden; wenn wir beispielsweise bestaunen, was in der Bienenwelt so alles geschieht.
Man kann beim Lesen eine Gänsehaut bekommen oder bei einem Kinofilm zu Tränen gerührt sein. Die geistige Berührung hat also auch körperliche Auswirkungen?
Die Sphären sind nicht getrennt. Wir können mit einem Menschen intensive körperliche Berührung haben, intensiv fühlen und uns auch sehr viel dabei denken. Bei einer solchen Erfahrung ist die Fülle des Menschseins angesprochen. Das sind die stärksten Erfahrungen, die wir überhaupt machen können. Häufiger sind die Situationen, in denen nur der Körper, nur die Seele oder nur der Geist betroffen sind. Auch das sind starke Erfahrungen, sie schöpfen aber nicht die Fülle des Menschseins aus.
Was zeichnet die vierte Form – die transzendente – Berührung aus?
Es ist eine Berührung, die über unsere gewöhnliche endliche Erfahrung hinausgeht. Innerhalb einer Religion ist das möglich, es muss aber nicht mit dem religiösen Phänomen im engeren Sinne einhergehen. Es kann sich auch um spirituelle und kosmische Erfahrungen handeln: Wenn ich abends am Balkon stehe, zu den Sternen hochschaue und mir überlege, wie viele Sterne es wohl sein mögen, kann mich ein Schauder erfassen. Ich kann zutiefst davon berührt sein, dass ich als kleines endliches Wesen inmitten einer solch unglaublichen bewundernswerten Unendlichkeit existieren darf. Das meine ich mit transzendenter Erfahrung. Wer sie macht, auch indem er sich durch Meditieren oder Beten fürs Unendliche öffnet, ist oft erfüllt von neuer Energie.
Wir brauchen eine Kunst der Berührung, die eine Sensibilität dafür entwickelt, wann welche Berührung gegenüber welchem Menschen angemessen ist.
Leben wir in einer Gesellschaft, die sich berühren lässt?
Wenn wir Urlaub zum Beispiel in Italien oder Spanien machen, merken wir, dass wir es mit warmherzigeren Gesellschaften zu tun haben und Berührungen eher zum Alltag gehören als in Deutschland. Es gibt also berührungsstärkere Gesellschaften, in denen man sich eher am Arm oder an der Schulter fasst und sich umarmt. Die Gründe dafür wären noch näher zu untersuchen. Klar ist aber: Menschen berühren heute auch in Deutschland oft etwas: ihre elektronischen Geräte. Die werden gestreichelt und ganz häufig angefasst, sodass ich aus manchen Familien schon den Aufschrei höre: Touch mich mal – und nicht immer dein Touch-Pad.
Sehen Sie Berührungsängste in der Gesellschaft?
Ja, sie spielen eine sehr starke Rolle. Selbst in Partnerschaften kommen unangenehme und unwillkommene Berührungen vor. Auch wenn es sich um eine berührungsstarke Beziehung handelt, heißt das nicht, dass Berührung zu jeder Tag- und Nachtzeit von allen Beteiligten willkommen ist. Daher meine ich: Wir brauchen eine Kunst der Berührung, die eine Sensibilität dafür entwickelt, wann welche Berührung gegenüber welchem Menschen angemessen ist. Eine solche Sensibilität ist nie ausgebildet worden. Das Bewusstsein dafür, dass wir sie brauchen, verdanken wir auch der MeToo-Bewegung. Sie hat uns vor Augen geführt, dass sich jede und jeder Gedanken machen sollte, welche Berührung gegenüber welchen Menschen in welchem Maße angemessen ist. Was ich beobachte, ist, dass immer mehr Menschen Angst vor Berührung haben. Eine Grundschullehrerin sagte mir neulich, sie nehme kein Kind mehr in den Arm und lege auch keine Hand mehr auf die Schulter eines Kindes, weil es sofort Missverständnisse zur Folge haben könnte. Das ist jammerschade, denn alle Eltern wissen: Wenn kleine Kinder in die Schule gehen, wollen sie auch mal von der Lehrerin in den Arm werden oder die Hand verständnisvoll auf die Schulter gelegt bekommen.
Wie lässt sich die Kunst der Berührung einüben?
Wir können uns selbst fragen: Wie ist das für mich, wenn mich ein geliebter Mensch berührt? Meine Kinder mich berühren? Mein Arbeitskollege? Wann tut mir das gut? Wann ist es mir zu viel? Indem ich stärker beobachte, wie das bei mir ist, gewinne ich eine Sensibilität dafür, wie sich das bei anderen verhalten könnte. Ich weiß dann immer noch nicht, wie genau es bei anderen ist, aber ich habe einen Eindruck davon, dass Phänomene, die ich an mir wahrnehme, womöglich auch bei anderen vorhanden sind. Dann kann ich gezielter nachfragen oder hinfühlen, hinspüren.
Gab es Situationen, in denen sie Berührung nicht ertragen konnten?
Zuletzt in der U-Bahn. Ich habe mich neben einen Mann gesetzt, der breitschultrig und breitbeinig dasaß und nicht die geringsten Anstalten unternahm, sich auch nur einen Millimeter kleiner zu machen. Leider mangelt es bei vielen an Einfühlung. Und wenn meine Beobachtung mich nicht trügt, trifft das häufiger auf Männer zu als auf Frauen.
Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrte bis zur Altersgrenze Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er als Gastdozent in Riga und Tiflis sowie als „philosophischer Seelsorger“ an einem Krankenhaus bei Zürich tätig. Seine Vortragstätigkeit ist umfangreich und führt ihn seit 2010 auch nach China und Südkorea. Im Jahr 2019 erschien sein Buch „Von der Kraft der Berührung“ (Insel Verlag).