Text: Carolin Scholz, Fotos: Bernd Schaller
20,6 Prozent der Über-65-Jährigen gelten in Deutschland als arm. Besonders häufig betroffen sind Frauen. Wenig Geld zu haben, kann den Alltag stark bestimmen– und das Älterwerden.
„Ich kann nicht sagen, dass ich arm bin“, sagt Gabriele Schäfer. Die 83-Jährige, die eigentlich anders heißt, sieht sich in ihrer Ein-Zimmer-Wohnung um und findet: Ihr fehlt nichts. Elvira Rössner (72) sagt: „Mein Alltag ist schon enorm eingeschränkt“, aber auch: „Armut ist relativ.“ Beide Frauen gehören zu den Menschen, die im Alter auf Grundsicherung angewiesen sind – weil die Rente, die sie bekommen, nicht zum Leben ausreicht.
So wie Elvira Rössner und Gabriele Schäfer geht es in Deutschland etwa 1,1 Millionen Menschen. So viele haben laut Zahlen des Statistischen Bundesamts 2020 „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ bezogen. Doch was ist eigentlich Armut? Statt Armut an existenziellen Notsituationen festzumachen – kein Geld für eine Wohnung, nicht genug zu essen –,wird in der EU ein relativer Armutsbegriff verwendet. Demnach gelten Menschen als arm, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens des Landes beträgt, in dem sie leben. Zum Einkommen zählt dabei sowohl das Geld, das durch Arbeit – oder Rente– eingenommen wird, als auch Wohngeld, Kindergeld oder andere Leistungen vom Amt.
Denn weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zu haben, bedeutet, finanziell nicht die Mittel zu haben, den Lebensstandard der Mehrheit in einem Land für sich zu finanzieren. In Deutschland liegt die Grenze für Alleinlebende laut Statistischem Bundesamt aktuell bei 14.076 Euro im Jahr – also etwa 1.173 Euro im Monat. 18,5 Prozent der Menschen, die in Deutschland leben, liegen mit ihrem Einkommen momentan darunter. In der Gruppe der Über-65-Jährigen sind es 20,6 Prozent.
2021 hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Studie über „Hohes Alter in Deutschland“ veröffentlicht. Diese ergab, dass 22 Prozent der Über-80-Jährigen in Deutschland von Armut betroffen sind. Die Studie zeigt auch: Besonders häufig betrifft Armut im Alter Frauen – etwa 26 Prozent in dieser Altersgruppe, unter Männern sind es nur 17 Prozent. Auch Bildungsstand und die Frage, ob und wie lange die Personen erwerbstätig waren, spielt eine Rolle.
„Ich habe immer gearbeitet, trotz meiner fünf Kinder“, sagt Gabriele Schäfer. Nur habe sie nie in die Rentenkasse eingezahlt – eher abends gekellnert, während ihr Mann auf die Kinder aufgepasst habe. Er, sagt sie, habe nicht gewollt, dass sie offiziell, also sozialversicherungspflichtig arbeite. Nach der Scheidung habe sie in einem Supermarkt gearbeitet, nebenbei geputzt. Aber weil sie sich dann alleine um die Kinder kümmern musste, habe sie auch das aufgegeben. Beim Arbeitsamt habe man damals zu ihr gesagt: „Wieso wollen sie überhaupt arbeiten? Sie haben doch kleine Kinder zu Hause?“, und dass es dem Mann einen Anlass geben könnte, das alleinige Sorgerecht einzufordern, wenn sie nicht genug Zeit habe, sich zu kümmern. Also sei sie zu Hause geblieben.
Elvira Rössners Biografie ist anders. Sie hat Drogistin gelernt und auch lange Zeit gearbeitet. Durch die Scheidung von ihrem Mann sei das schwieriger geworden – um von ihm Unterhalt für sich und die beiden Kinder zu bekommen, habe sie zunächst nichts mehr selbst verdienen dürfen. Später habe sie gearbeitet, sei dann aber für zehn Jahre nach Costa Rica ausgewandert. Habe dort in einer Finca gelebt und Apfelsinen verkauft und mit Tourismus etwas dazuverdient.
Günstige Lebensmittel für Menschen mit wenig Geld
„Ich bin dann wieder zurück, um meine Rente aufzubessern“, sagt sie. Eigentlich habe sie in Costa Rica alt werden wollen – dann sei sie aber doch hier geblieben. In der Zeit, in der sie dort gelebt hat, habe sie nicht in die Rentenkasse eingezahlt. Und das rächt sich heute.
„Es geht in erster Linie um Lebensmittel“, sagt sie. Im Alltag drehe sich vieles darum, sich zu versorgen. Das nehme viel Zeit ein. An der Ackerstraße im „Laden“ gibt es günstige Lebensmittel für Menschen mit wenig Geld. Alle drei Wochen hole sie außerdem Essen bei der Tafel. „Da bin ich einmal im Monat so richtig vollgegessen“, sagt sie. Für sie als Alleinstehende seien die frischen Sachen, wie Salat, oft zu viel auf einmal – trotzdem wolle sie nichts wegwerfen. Gelegentlich sammle sie Pfandflaschen und hole sich beim zentrum plus einen Einkaufsgutschein für den Supermarkt in der Nähe. Oder decke sich im Käse-Großhandel mit Käse und Joghurt ein. „Früher war ich sehr verwöhnt“, sagt sie. „Ich war ja nicht immer arm.“
Ich glaube, viele Ältere fühlen sich schuldig – einzugestehen: Ich habe es nicht geschafft.
Gabriele Schäfer sagt, sie müsse sich kaum einschränken. Kaufe nicht immer nur das Billigste. Einmal im Monat bringe der Pfarrer eine Tüte Lebensmittel – meist Konserven – vorbei. Die gebe es eigentlich an der Essensausgabe, aber weil sie nicht so gut zu Fuß ist, komme der Pfarrer bei ihr vorbei. Ansonsten versuche sie, gut zu planen, vorzukochen und einzufrieren, sodass sie nichts wegwerfen müsse.
Gabriele Schäfer sagt, sie habe im Monat etwa 520 Euro zur Verfügung. Die Miete zahle das Sozialamt. Bei Elvira Rössner sind es etwa 407 Euro. Ebenfalls ohne die Miete. 130 Euro oder etwas über 100 Euro pro Woche, 17 oder 13 Euro pro Tag. „Ich kann mich immer auf meine Kinder verlassen“, sagt Gabriele Schäfer. Ihr Sohn bezahlt ihre Stromrechnung, eine der Töchter die Handyrechnung. Alle zwei Wochen kommt eine der anderen und bringt zwei Kisten Wasser und ein paar Lebensmittel. Auch deshalb bleibt ihr von dem Geld, das sie im Monat hat, mehr übrig.
Im Notfall müssen die Kinder einspringen
Bei ihrem Umzug vor einigen Jahren hätten die Kinder auch geholfen, eine günstige Einbauküche und eine Waschmaschine zu besorgen. Viele Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen, berichten von der Sorge vor unerwarteten Kosten. Dass etwa die Waschmaschine oder der Kühlschrank kaputte gehe – und einfach keine Rücklagen da seien, um diese zu ersetzen. Diese Sorge hat Gabriele Schäfer nicht. Im Notfall würden die Kinder einspringen.
„Ich habe schon Armut erlebt“, sagt sie. Sie ist 1938 geboren, ihre Mutter war mit drei Kindern alleine– der Vater im Krieg. Sie erinnert sich, wie die Mutter aus Grieß und Sardellenpaste Leberwurst-Ersatz für die Kinder gemischt hat. Das sei eine schwierige Zeit gewesen. „Vielleicht bin ich deshalb bescheiden.“ Die andere Situation, in der es wirklich brenzlig war, war, als es kurz nach der Scheidung Probleme mit der Unterhaltszahlung gegeben habe. Drei Monate lang sei kein Geld angekommen, und sie habe mit fünf Kindern keinerlei Einnahmen gehabt. „Da sind wir am Nachmittag über die Felder gelaufen und haben geschaut ob irgendwo ein Kohl bei der Ernte übrig geblieben ist.“
Mir fehlt der Ausgleich
Damit verglichen gehe es ihr heute gut. Sie brauche auch nicht viel – sei mit weniger zufrieden. Urlaub und Luxusgüter seien das Einzige, worauf sie verzichten müsse. Obwohl ihr zu letzterem spontan nicht einfällt, was sie sich da wünschen würde. Und Urlaub: „Meine Tochter nimmt mich nach Ostern mit nach Griechenland.“ Da freue sie sich schon.
Auch Elvira Rössner fehlt das Reisen. Und die Kultur. „Mir fehlt oft der Ausgleich.“ Dass es bei ihr im Alter so knapp werden würde, habe sie sich vorher nicht vorgestellt. Sie hatte gehofft, dass auch dann noch Reisen möglich sein würden. Besuche im Konzert oder im Theater. Kurse an der Volkshochschule. All das sei schwierig und eher nur im kleinen Rahmen und mit der Unterstützung von Organisationen möglich, die sich für Kulturangebote für Bedürftige einsetzen. Durch die Corona-Pandemie seien diese Angebote weniger geworden.
„Ich wurschtel mich so durch“, sagt Elvira Rössner. Immer wieder komme ihr die Ausbildung zur Drogistin zugute. Es gebe in der Stadt allerlei essbare Pflanzen, wie Brennnesseln, Löwenzahn oder Vogelmähre. Sie verbringe viel Zeit damit, umherzuspazieren und zu sammeln. Auch Brombeersträucher gebe es einige, die öffentlich zugänglich seien. „Ich bin da ungebremst – ich esse alles.“ Auch Kosmetika stelle sie selbst her – Deo zum Beispiel.
„Wahrscheinlich bin ich untypisch.“ Sie habe auch kein Problem damit, Lebensmittel bei der Tafel oder Kleidung im Sozialkaufhaus holen zu müssen. „Die Zeit, die ich in Costa Rica verbracht habe, möchte ich nicht missen“, sagt sie. Sie stelle aber immer wieder fest, dass es viele Menschen Überwindung kostet, zu den Ausgabestellen zu gehen und zu zeigen, dass sie darauf angewiesen sind. „Ich glaube, viele Ältere fühlen sich schuldig – einzugestehen: Ich habe es nicht geschafft.“ Wenn sie im Alter noch Unterstützung brauchten. Doch über sich sagt sie trotz allem: „Ich sehe das nicht so tragisch.“
Elvira Rössner und Gabriele Schäfer sind Besucherinnen der zentren plus der Diakonie Düsseldorf kennengelernt. Die Mitarbeitenden dort beraten und unterstützen ältere Menschen auch bei finanziellen Schwierigkeiten.