„Niemand sollte sein Glück von einem einzigen Menschen abhängig machen“
Bettina Pause leitet das Institut für Biologische Psychologie und Sozialpsychologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Im Interview erklärt sie, warum Einsamkeit ungesünder ist als Rauchen, was das Kuschelhormon mit uns macht und wie unsere Beziehungen sich von denen einer Ameise unterscheiden.
Das Gespräch führte die Düsseldorfer Journalistin Marion Troja
Sie geben seit vielen Jahren im Rahmen des Psychologie-Studiums an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Spezialseminare zum Thema Einsamkeit. Was ist schlimmer, rauchen oder allein zu Hause sitzen?
Wenn man es ganz genau beantworten will, dann müsste man sagen: allein zu Hause sitzen. Beides bringt ein ähnliches Risiko mit sich, früher zu sterben. Einsamkeit aber tatsächlich noch ein bisschen deutlicher.
Warum ist Einsamkeit so gefährlich?
Einsamkeit wird von Menschen als chronische Stresserkrankung wahrgenommen. Einsamkeit in dem Sinne, dass es ein ungewollter Zustand des Alleinseins ist.
Das ist die Definition?
Ja, wir müssen sie abgrenzen vom Alleinsein, das ja manchmal auch gewünscht ist. Bei der Einsamkeit gibt es das Bedürfnis, mit oder unter Menschen zu sein.
Also eine subjektive Größe.
Genau. Objektiv lässt sich das nicht feststellen. Solche Zustände sind nicht gewollt und zudem gesellschaftlich insgesamt häufiger geworden. Wir wissen, dass die Anzahl enger Freundschaften in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren deutlich abgenommen hat als Folge von Verstädterung.
Was sind die körperlichen Auswirkungen von Einsamkeit?
Es wird wie Stress erlebt, dass man das Bedürfnis hat, mit anderen Menschen zusammen zu sein, und dieses Bedürfnis nicht erfüllt wird. Es folgt eine dauerhafte Frustration, gegen die man, so wird es empfunden, nichts machen kann. Sonst wäre man ja nicht einsam. Es fehlen also Kontrollmechanismen, um diesen Zustand zu reduzieren. Aus der Stressforschung wissen wir bereits seit etwa hundert Jahren, dass Stress chronische Erkrankungen provoziert. Einsamkeit wirkt auf diese Weise auf verschiedene Organe, aufs Herz-Kreislauf-System, verursacht Krebs oder andere tödliche Krankheiten.
Und was macht die Auswirkungen von Einsamkeit so dramatisch?
Bei Einsamkeit haben wir noch einen zweiten Risikofaktor: Bei normalen Stresserkrankungen können wir den Stress abpuffern durch unsere Sozialkontakte. Da gibt es zum Beispiel das Neuropeptid Oxytocin, das im Kontakt mit engen Freundinnen und Freunden, der Partnerin oder dem Partner in Gehirn erzeugt wird.
Das sogenannte Kuschelhormon.
So ist es. Das führt nicht nur zu einer verstärkten Bindung, sondern hat eine direkte reduzierende Wirkung auf die Stresshormone und führt dazu, dass der Stress sich im Organismus nicht so ausbreiten und damit chronische Effekte haben kann.
Wenn ich also tagsüber Ärger mit dem Chef habe und abends mit Freunden darüber rede, dann schützt mich das vor den negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Und wenn keiner da ist, kommt beides zusammen.
Beides kommt zusammen und wirkt ungehemmt auf das Organsystem. So erklären sich diese gravierenden Konsequenzen. Und so wirkt Einsamkeit, gemessen in fünf bis sieben Jahren, stärker Richtung Tod als Rauchen. Wenn man irgendetwas gegen seine Gesundheit tun möchte, dann ist Einsamkeit die effektivste Methode.
Wer ist besonders betroffen?
Es hängt von den Lebensumständen ab. Niemand sollte sein Glück von einem einzigen Menschen abhängig machen, sondern ein soziales Netz aufbauen. Das müssen nicht mehr als drei bis fünf Personen sein, mit denen man eng ist und die da sind, wenn es einem schlecht geht.
Warum sind analoge Kontakte wichtiger als digitale? Muss ich die Menschen anfassen können, um das Kuschelhormon in mir zu erzeugen?
Es ist wichtig, dass die Partnerin, der Partner oder die Freundin, der Freund anwesend ist. Ich muss mal in den Arm genommen werden oder gemeinsam spontan lachen. Das Analoge ist sehr viel intensiver und ich weiß schneller, ob ich mich auf diesen Menschen verlassen kann.
Ist Einsamkeit in jedem Alter gleich gefährlich?
Einsamkeit trifft jede Altersgruppe. Aber bei den Pubertierenden und Adoleszenten hat die Einsamkeit noch gravierendere Konsequenzen. Menschen in diesem Alter sind wesentlich stärker abhängig von sozialem Feedback für den Aufbau von Selbstwert und Selbstsicherheit. Sie brauchen die soziale Interaktion, um ein Selbstkonzept aufzubauen.
Wie erklären Sie das als Wissenschaftlerin?
Das kann man aus einem evolutionsbiologischen Ansatz heraus darstellen: Man hat herausgefunden, dass dieses außergewöhnlich funktionstüchtige Gehirn, das wir haben, insbesondere der Neocortex, im Laufe der Säugetiergeschichte deutlich größer geworden ist. Bei den Primaten, Menschenaffen und Menschen ist er besonders groß. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass wir das geschafft haben aufgrund der sozialen Kontakte, die wir hatten. Man nennt das die Hypothese des sozialen Gehirns.
Warum ist das so gewesen?
Gehen wir in der Geschichte mal zurück in die Zeit, als wir noch Primaten oder Menschenaffen waren. Da konnten wir uns nicht besonders gut verteidigen. Wir sind nicht effektiv ausgestattet mit Krallen oder Eckzähnen. Wenn wir die Gruppe in einem bestimmten Entwicklungsstadium nicht gehabt hätten, wären wir ausgestorben. Diese Gruppe braucht flexible soziale Bezüge, um sie stabil zu machen. Das ist jetzt der Unterschied zur Ameise, die ja auch viele Beziehungen hat, die aber alle stark automatisiert sind. Jeder Ameise ist eine bestimmte Rolle zugeordnet, die genetisch festgelegt ist. Die Primaten haben gerade den Erfolg, weil sie so flexibel sind. Sie können Betrüger erkennen und aus der Gruppe ausschließen. Es kann eine Gruppenleitung definiert werden, je nachdem, was gerade wichtig ist. Das ist ein sehr komplexes Verhalten.
Das manche Menschen überfordert.
Aus der Psychologie wissen wir, dass diese Prozesse die komplexesten überhaupt sind. Wenn Sie ein Individuum wahrnehmen, dann sind das Hunderte von verschiedenen Reizen, die Sie parallel verarbeiten müssen. Gestik, Mimik, Tonfall, Stimme – alles kommt zusammen, um einen Gesamteindruck von einem Menschen zu gewinnen. Wenn Sie innerhalb einer Gruppe von zehn Menschen oder mehr sind, dann müssen Sie diese gesamten Reize verarbeiten. Diese Vielzahl von Reizen, die parallel verarbeitet werden müssen, haben Sie sonst in keiner anderen Domäne.
Das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist folglich in unserer Entwicklung begründet.
Wir sind soziale Wesen und diese Entität hat unser Gehirn gemacht. Und deswegen ist der Mensch so stark abhängig von der sozialen Gruppe. Wenn Sie einsam sind, werden Sie krank. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Es entstehen Angststörungen, Depressionen, Abhängigkeiten bis hin zu Schizophrenie.
Seit wann hat man diesen schwerwiegenden Zusammenhang erkannt?
Es gab immer mal einzelne Forscherinnen und Forscher – etwa seit den 1960er Jahren. Dass das so richtig deutlich wurde in der Psychologie und Medizin, da gebe ich nicht mehr als zehn Jahre. Irgendwann ist die Beweislast so erdrückend, und es kommt, wie jetzt in England, zu Reaktionen wie der Berufung einer Einsamkeitsministerin. Auch in Deutschland wurde das ja bei der vergangenen Regierungsbildung diskutiert.
Was können Politik und Gesellschaft tun?
Es gibt ein spezielles soziales Kompetenztraining, das kommt aus der klinischen Psychologie. Das sind Techniken, die man lernen und ausprobieren kann. Ich würde das mal mit dem Klavierspielen vergleichen. Es nützt nichts, wenn man weiß, wie die Finger auf die Tastatur gestellt werden, sondern man muss das üben.
Das bedeutet, diese sozialen Kompetenzen könnten in Schulen vermittelt werden.
In Schulen oder als Gruppentraining. Man trainiert seine Fähigkeiten in sozialen Situationen, die sich von einfach bis sehr schwierig steigern. Das Gruppentraining lässt sich bei Menschen anwenden, die Defizite haben wie etwa Schizophrenie-Erkrankte, bei denjenigen, die Schwierigkeiten haben, soziale Kontakte zu knüpfen, bis hin zu Leuten, die sich für superkompetent halten und eine Führungsposition einnehmen wollen.
Ein entsprechendes Ministerium könnte gesellschaftlich für die notwendigen Strukturen sorgen, also auch Geld für dieses soziale Kompetenztraining bereitstellen.
Da könnte man politisch viel erwirken. Es braucht Zentren, in denen sich Menschen in ihrer Altersgruppe treffen können. Die Kirche macht das ja schon seit vielen Jahren. Städtebaulich benötigt man so etwas wie einen Marktplatz, auf dem man sich treffen kann. Wenn es keine Bänke und Plätze im Stadtbild gibt, ist viel verloren.
Kann jeder mit dem entsprechenden Training der Einsamkeit entkommen?
Die gute Nachricht ist: Es gibt niemanden, der genetisch oder warum auch immer dazu bestimmt ist einsam zu sein. Wir können alle soziale Kontakte aufbauen. Man braucht da nur etwas Geduld.
Professorin Bettina Pause leitet das Institut für Biologische Psychologie und Sozialpsychologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie studierte Psychologie (Nebenfächer: Anthropologie, Philosophie, Physiologie und Psychopathologie) an der Universität Kiel, wo sie 1990 das Diplom erhielt. Dort promovierte sie auch 1994 in den Fächern Psychologie, Toxikologie und Zellbiologie, 2004 habilitierte sie sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Kiel.