Vom Gefühl des Verlassenseins
Einsamkeit kann jeden Menschen treffen. Ältere Menschen sind besonders gefährdet, aber auch junge Menschen klagen über Einsamkeit. Der Rat „Geh doch mal raus“ hilft da wenig.
Einsamkeit klingelt nicht an der Tür. Einsamkeit schleicht sich von hinten an und sitzt plötzlich neben uns auf dem Sofa, während wir gerade noch unsere Lieblingsserie gucken. Patrick Käfer kennt dieses Gefühl und auch die peinlich berührten Blicke und die „Geh-doch mal-raus-Tipps“ der anderen, wenn er darüber spricht. „Einsamkeit ist ein Tabu“, sagt der 32-Jährige. „Gerade deshalb müssen wir darüber reden.“
Am Anfang war alles so gut gelaufen. Nach dem Abitur hatte Patrick Käfer ohne Probleme einen Studienplatz – Wirtschaftswissenschaft – gefunden, 120 Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Das war nicht allzu weit weg, aber zu weit zum Pendeln, der Student zog deshalb nach Stuttgart. Das Grundstudium war hart, aber Patrick Käfer kniete sich rein. In den ersten Semestern ackerte er sehr viel Stoff durch. Zeit, abends etwas zu unternehmen, vielleicht auch einmal auf eine Party zu gehen, hatte er kaum. „Ich war aber sowieso nie so der Partygänger“, sagt er.
Andere Studierende lernte er in dieser Zeit nur oberflächlich kennen. Die Uni ist groß, mit dem Sitznachbarn in der Vorlesung ein paar Worte gewechselt zu haben, musste nichts bedeuten. Die Chance, sich noch ein zweites Mal zu treffen, war eher gering, sagt Käfer. Manchmal fuhr er am Wochenende nach Hause, wie viele seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen, die zur Uni pendelten. „Aber da war keiner mehr. Alle Freunde waren weggezogen.“
Irgendwann, erinnert sich der 32-Jährige, habe er dann begriffen, „dass man sich auch in einer großen Gruppe von Menschen verdammt einsam fühlen kann“. Ein niederschmetterndes Gefühl sei das. „Ich habe mich wertlos gefühlt und vergessen. Ich war demotiviert und habe keinen Grund mehr gesehen, die Wohnung zu verlassen.“ Die Schuld dafür habe er bei sich gesucht. „Ich dachte, dass ich einfach nicht kompatibel bin.“
Der Mensch verliert den Mut, sich selbst zu helfen
Mit dem Gefühl des Verlassenseins, das Patrick Käfer in Stuttgart hatte, ist er nicht allein. Viele Menschen haben sich in ihrem Leben schon einmal einsam gefühlt. Weil sie oder er in eine andere Stadt gezogen ist, weil eine Beziehung zu Bruch gegangen ist oder man den Job gewechselt und die ehemaligen Kolleginnen und Kollegen jetzt plötzlich nur noch eines sind: ehemalige Kolleginnen und Kollegen.
Schwierig wird es, wenn dieses Gefühl länger anhält. „Mit zunehmender Einsamkeit verlieren die Menschen den Mut, sich selbst zu helfen“, sagt Autor Thomas Hax-Schoppenhorst, der dem Thema Einsamkeit ein ganzes Buch gewidmet hat. „Dadurch bestätigt sich das negative Bild, das diese Menschen von sich selbst haben – ein Teufelskreis.“ Forscherinnen und Forscher sprechen hier von einer Chronifizierung von Einsamkeit. „Körperliche und seelische Erkrankungen bis hin zur Depression können die Folge sein.“
Unfreiwillig allein? Das kann krank machen
Die Gründe dafür sind auch in der Entwicklungsgeschichte des Menschen zu finden. In der Urgeschichte war der Mensch auf die Gruppe angewiesen, um sein Überleben zu sichern, etwa wenn es darum ging, sich vor dem Angriff wilder Tiere zu schützen.„Deshalb geraten wir bis heute massiv in Stress, wenn wir merken, dass wir bei einer Gruppe nicht andocken können“, sagt Hax-Schoppenhorst. Dieser Stress könne auf Dauer die Gesundheit schädigen, vor allem das Herz-Kreislauf-System und das Immunsystem sind gefährdet. Außerdem lebten einsame Menschen oft ungesünder als Menschen, die ausreichend Gesellschaft haben. „Kein Wunder, es fehlt die Motivation, vor die Tür zu gehen und sich zu bewegen oder für sich alleine etwas Gesundes zu kochen.“
Fachleute unterscheiden zwischen Alleinsein, sozialer Isolation und Einsamkeit. Unter Alleinsein verstehen sie einen selbstgewählten Rückzug. Der kann positive Auswirkungen haben: Abstand vom Alltag zu nehmen – ob bei langen Wanderungen in der Natur oder indem wir uns einfach ein Wochenende zu Hause einschließen – kann uns dabei helfen, Kraft zu tanken, uns auf uns selbst zu besinnen oder neue Ideen zu entwickeln. Als sozial isoliert bezeichnen die Fachleute Menschen, die keine Kontakte haben. Von Einsamkeit sprechen sie dagegen, wenn Menschen an einem Mangel an sozialen Kontakten leiden. Diese Empfindung ist immer eine rein subjektive: Die einen brauchen vielleicht nur zwei Freundinnen und Freunde, die anderen zehn, um sich aufgehoben zu fühlen.
Jeder fünfte Mensch über 85 Jahre fühlt sich einsam
Besonders betroffen von Einsamkeit sind ältere Menschen ab 85 Jahren. Jeder fünfte fühlt sich – so eine Studie der Uni Bochum – einsam. Der Ehepartner ist vielleicht bereits gestorben, die Kinder wohnen weit weg. Der Freundeskreis reduziert sich, die Handicaps nehmen zu. Und dann ist da noch die Scham, vielleicht nicht mehr so mithalten zu können wie früher. Das Haus zu verlassen fällt immer schwerer, und damit sinkt auch die Chance, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Aber auch junge Menschen kennen das Gefühl des Verlassenseins. Bei den 26- bis 35-Jährigen fühlen sich laut Studie immerhin rund 15 Prozent zumindest einsam. Pädagoge Thomas Hax-Schoppenhorst macht für diese Entwicklung auch „eine zunehmende Phase der Individualisierung“ verantwortlich, die „fast hysterische Züge“ annehme. „Es gilt die Insel der eigenen Glückseligkeit zu gestalten, dabei geht der Blick auf das Umfeld verloren.“
Patrick Käfer studiert mittlerweile in Köln. Sein Wirtschaftswissenschaftsstudium hat er abgeschlossen. Jetzt steht er kurz vor dem 1. Staatsexamen. Er möchte Lehrer werden. In Köln fühlt er sich wohl. Er lebt mit seiner Freundin zusammen. In seiner freien Zeit engagiert er sich ehrenamtlich – im Vorstand von nightline, dem Sorgentelefon von Studierenden für Studierende.
In den Gesprächen mit den Studierenden, die nachts anonym ihre Sorgen schildern können, sei Einsamkeit oft Thema, wenn auch indirekt, sagt Käfer. „Ich höre eher Dinge wie: ‚Ich habe nur wenig soziale Kontakte‘‚ oder: ‚In den Veranstaltungen kenne ich niemanden.‘“ Aussprechen wolle das Wort „einsam“ kaum einer. Viele Menschen meinen, dass es für junge Leute ganz leicht ist, Freundinnen oder Freunde zu finden. „Das macht es für die Betroffenen noch schwerer, sich zu öffnen.“
Armut verändert unsere sozialen Netzwerke
Ein Risikofaktor für Einsamkeit ist neben der Individualisierung, dem Alter, einer schwachen Gesundheit oder mangelnder Mobilität auch die finanzielle Situation. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler der Universität Hamburg konnten jetzt nachweisen, dass sich bei Menschen, die in Armut geraten, die sozialen Netzwerke verändern. Für die Studie haben Prof. Dr. Petra Böhnke und Sebastian Link Daten des Sozio-oekonomischen Panels analysiert. Dort geben mehr als 20.000 Menschen seit drei Jahrzehnten wiederholt zu Themen wie Einkommen, Gesundheit oder Beziehungen Auskunft.
Das Ergebnis: „Verlieren die Menschen finanzielle Ressourcen, nehmen sie weniger am gesellschaftlichen Leben teil. Gegenseitige Besuche bei Freunden und Bekannten werden seltener. Gesellige Treffen, zum Beispiel im Restaurant, nehmen ab. Langfristig verändert sich auch der Freundeskreis und weniger Personen mit festem Job zählen dazu“, sagt Link. Kein Wunder, eine Vereinsmitgliedschaft, Freunde zu sich nach Hause zum Abendessen einladen, ein Konzertbesuch – das alles kostet Geld. Außerdem gehe es bei Beziehungen immer um den Austausch von materiellen und nichtmateriellen Dingen. „Wenn eine Seite aufgrund ihrer Lage mehr nehmen muss und wenig zurückgeben kann, kann eine Beziehung aus dem Gleichgewicht geraten. Auf Dauer kann auch der Erhalt einer Freundschaft davon bedroht sein“, sagt Link. Er sieht auch die Gesellschaft in der Pflicht. „Verstehen wir Armut als ein strukturelles Problem oder als ein selbstverschuldetes Versagen? Je mehr das Pendel in die zweite Richtung ausschlägt, desto eher ist zu befürchten, dass Armut mit sozialem Rückzug einhergeht.“
Aber wie lässt sich Einsamkeit nun überwinden? Indem wir uns nach draußen trauen und die mitnehmen, die sich nicht mehr trauen. Indem wir Orte schaffen und Orte aufsuchen, in denen andere bereit sind zuzuhören. Indem wir uns öffnen und selbst zuhören. In Düsseldorf gibt es die zentren plus, in denen ältere Menschen sich treffen und sich austauschen können – mittlerweile sogar auch per Videoschalte von zu Hause aus, falls die Gesundheit es nicht anders zulässt. Es gibt die Welcome Points, in denen neu Zugezogene und Alteingesessene zusammenkommen und miteinander Zeit verbringen können. Es gibt Cafés für Alleinerziehende, Tagesstätten für Wohnungslose oder das suchtmittelfreie Café drrüsch, in dem Menschen mit einer Suchterkrankung und Menschen aus dem Stadtteil gemeinsam Kaffee trinken oder zu Mittag essen können. Und es gibt das Ehrenamt. Ursula Wolter leitet die Freiwilligenzentrale MachMit in Düsseldorf, die Ehrenamtliche in Kitas, in Pflegheime oder Tagesstätten für Wohnungslose vermittelt. „Ehrenamtliche unterstützen einsame Menschen. Aber sie tun auch aktiv etwas gegen die eigene Einsamkeit“, ist ihre feste Überzeugung. „Wo kommen Menschen schon so leicht ins Gespräch wie bei einer ehrenamtlichen Tätigkeit?“
Thomas Hax-Schoppenhorst ist Autor und Herausgeber vieler Fachbücher zu pädagogischen und psychologischen Themen. Sein „Einsamkeits-Buch – Wie Gesundheitsberufe einsame Menschen verstehen, unterstützen und integrieren können“ ist im Hofgrefe-Verlag erschienen. Hauptberuflich arbeitet der 63-Jährige in der Öffentlichkeitsarbeit der LVR-Klinik in Düren.
Mehr Informationen zur Studie von Sebastian Link und Prof. Dr. Petra Böhnke finden Sie hier.
Die Studierenden, die andere Studierende bei nightline beraten, werden für diese Aufgabe intensiv geschult. Erreichbar ist die Hotline in der Vorlesungszeit Mo, Di, Do, Fr und So von 21 bis 24 Uhr unter Telefon 0800 4 703500. Der Anruf ist kostenlos.