Text und Foto: Anne Heidrich
Respekt gegenüber der Privatsphäre ist genauso wichtig wie der Zusammenhalt im VinziDorf. Für die Akzeptanz in der Nachbarschaft musste dagegen härter gekämpft werden.
Sie kommen alle: die Blaumeisen, die Eichelhäher, die Krähen. Das Vogelhäuschen, das auf der kleinen Terrasse links neben der Tür mit der Nummer 16 hängt, war sein Weihnachtswunsch im letzten Jahr. Auch im Sommer ist der Boden nun mit Körnern bedeckt. Den Vögeln schaue er eben jederzeit gerne zu, sagt Michael Kummer. Hinauszublicken aus dem Fenster, auf die offen hängende, rotbraune Futterstelle mit dem dunkelblauen Dach – für ihn ist es „wie das Paradies“. Das mag auch daran liegen, dass er selbst noch kein ganzes Jahr ein schützendes Zuhause hatte, als er das Häuschen für die Vögel geschenkt bekam. Es hat lange gedauert, bis er endlich irgendwo untergekommen war, auch ankommen wollte – im VinziDorf Wien schließlich war das für ihn möglich, einem Dauerwohnprojekt für wohnungslose Männer in Wien Meidling. Am 7. Januar 2019, Michael Kummer erinnert sich an das genaue Datum, zog er ein in sein etwa acht Quadratmeter großes Wohnmodul mit einem eigenen Bett, mit einer eigenen Nasszelle, mit einer eigenen Tür, die er mit einem eigenen Schlüssel aufsperren kann und wieder zusperren. Die 14 Jahre davor? „Auf der Straße gelebt“, sagt der 52-Jährige. „Viele Probleme, viel Blödsinn gemacht.“ Lange schon sei er Alkoholiker.
Grundsätzlich soll jeder kommen und gehen können, wann er mag
Wein zu trinken oder Bier – im Wiener VinziDorf ist das gestattet. Auf dem großzügigen grünen Gartengelände mit den vielen Apfel-, Birnen- und Marillenbäumen, dem Hauptgebäude mit Dusch-, Aufenthalts- und Gasträumen sowie den acht kleinen Häuschen mit je zwei Wohnmodulen soll jeder leben können, wie es ihm entspricht. „Es geht uns darum, die Menschen so sein zu lassen, wie sie sind“, sagt Sozialarbeiterin Maria Scheiblauer, die das Projekt leitet und sich zusammen mit zwei festen Angestellten und 40 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern um die ehemals Wohnungslosen kümmert. Dazu gehöre es, zu akzeptieren, dass viele schon früh am Morgen Alkohol trinken. Möchte jemand eine Therapie machen, freiwillig, dann wird er dabei unterstützt. Sozialarbeiterische Betreuung oder Hilfe bei Behördenterminen wird demjenigen angeboten, der sie benötigt. Gefrühstückt und zu Abend gegessen wird gemeinsam, grundsätzlich aber soll jeder kommen und gehen können, wann er mag. Respekt gegenüber der Privatsphäre sei genauso wichtig wie der Zusammenhalt im VinziDorf.
„Mein Nachbar hat die ganze Nacht gehustet, kann mal jemand bei ihm vorbeischauen?“
Als „Heimat für Heimatlose“ versteht sich das Projekt. Die 24 Wohnplätze werden unbefristet vergeben. Aufgenommen werden ausschließlich Männer, im Durchschnitt sind sie 50 Jahre alt und waren zuvor viele Jahre oder gar Jahrzehnte lang wohnungslos. Männer, die in den den anderen Einrichtungen der Wiener Wohnungslosenhilfe aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zurechtgekommen sind. Männer, die nach dem Wiener Sozialhilfegesetz aber anspruchsberechtigt sind. Mindestsicherung, Notstandshilfe oder Arbeitslosengeld bekämen die meisten, erklärt Maria Scheiblauer, aber es gebe auch Pensionsbezieher oder Tagelöhner. 15 Prozent ihres Einkommens müssen sie als „Dorfbeitrag“ ans VinziDorf abgeben. Und mithelfen. Das eigene Wohnmodul sauber halten, klar. Gelegentlich den Garten pflegen. Auch mal für diejenigen einkaufen gehen, die eingeschränkter sind. Aufeinander achtgeben. Manchmal würde zwar auch gestritten unter den Männern, sagt Maria Scheiblauer, da höre sie dann: „Der ist nicht mehr mein Freund.“ Aber es gäbe auch sehr viel Solidarität, da heiße es dann: „Mein Nachbar hat die ganze Nacht gehustet, kann mal jemand bei ihm vorbeischauen?“
Für die Akzeptanz in der Wiener Nachbarschaft musste härter gekämpft werden. Anderthalb Jahrzehnte lang wurde der Traum vom Wiener VinziDorf verteidigt und durchgeboxt, bis es in Meidling schließlich Realität werden konnte. Als „massiv“ beschreibt Maria Scheiblauer die Widerstände gegen das Dauerwohnprojekt für Wohnunglsoe. Ein Grundstück zu finden sei unglaublich schwierig gewesen, einige Standorte waren im Gespräch, wurden geprüft, immer wieder hätte sich die Nachbarschaft beschwert. Dabei gab es ein gutes Vorbild, das VinziDorf in Graz, ein Wohnprojekt für 33 alkohol- und häufig auch psychisch kranke Männer, das dort vor fast drei Jahrzehnten gegründet wurde. Eine Idee des katholischen Pfarrers Wolfgang Pucher, der sich seit den 90ern für Wohnungslose engagiert: In der Steiermark baute er damals auch das Projekt VinziBus auf, bei dem Lebensmittel an Hilfsbedürftige verteilt werden. Es folgten Wohneinrichtungen, Nachtschlafstellen, Krankenstuben, Sozialmärkte – rund 40 Projekte sind aus seiner „Vinzenzgemeinschaft Eggenberg“ entstanden, vor allem in Graz, aber auch in Salzburg oder eben in Wien.
Die Männer sind selbst verantwortlich dafür sind, wie sie in ihren Häuschen im VinziDorf leben
In der österreichischen Hauptstadt sei das VinziDorf seit seiner Eröffnung vor knapp zwei Jahren ganz langsam, ganz behutsam besiedelt worden, noch eine Wohneinheit stehe leer, eine weitere sei reserviert – für einen Mann, den Maria Scheiblauer, die seit 2004 in der Wohnungslosenhilfe tätig ist, schon lange kennt und begleitet. „Seit 40 Jahren lebt er auf der Straße“, sagt sie. Sie hätten einen Termin ausgemacht, er habe das Dorf bereits besichtigt. Aber einziehen? „Dazu hat sich noch nicht durchringen können.“ Immer wieder betont sie, dass die Männer selbst verantwortlich dafür sind, wie sie in ihren Häuschen im VinziDorf leben, auch den Zweifelnden gegenüber. „Es gibt Herren, die lieber auf dem Boden schlafen als auf dem Bett.“ Das werde akzeptiert. Ebenso wie eigene Möbel oder gestalterische Vorlieben. Wie jene von Michael Kummer. In einer seiner ersten Nächte im VinziDorf hat er bunte Bilder aus Zeitschriften ausgeschnitten und sie kreuz und quer an Tür und Außenwände seines kleinen neuen Zuhauses geklebt: Naturszenen sind darauf zu sehen, Reiseansichten aus fernen Ländern und, na klar, auch Vögel.