Seit mehr als vier Jahren wohnt Jaqueline in einer unserer Wohngruppen. Gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren und unseren Mitarbeitenden. In ihrem Alltag bestimmt die Gruppe über viele Dinge selbst. Für einige von ihnen ist das eine echte Herausforderung.
Jaqueline ist bereits seit einiger Zeit die Sprecherin der Wohngruppe Bären. Dabei ist die junge Frau in der Gruppe weder die Älteste noch diejenige, die dort am längsten wohnt. Aber die anderen vertrauen ihr. Und sie kann schweigen, weiß, wann es klug ist, Dinge zu sagen und traut sich, diese auch im großen Kreis anzusprechen. Denn Absprachen treffen die derzeit sieben Kinder und Jugendlichen in ihrem Haus in der Regel gemeinsam. Bei regelmäßig stattfindenden Gruppenabenden, vorzugsweise in locker-familiärer Atmosphäre um den großen Esstisch. „Da sprechen wir über gemeinsame Ausflüge. Und Filme, die wir zusammen gucken wollen, oder, dass das Bad nicht sauber ist“, erklärt die 14-Jährige. Die jungen Menschen regeln vieles in ihrem Alltag selbst, oft auch bewusst ohne dass Sozialpädagog*innen und Erzieher*innen mit dabei sind. Außerdem haben ihr Wille und ihr Wort großen Einfluss auf Dinge wie ihren Urlaub oder ihre persönliche Freizeitgestaltung. „Ich finde das gut“, sagt Jaqueline. „Weil erstens haben Kinder Rechte. Und zweitens ist es langweilig, wenn die Erwachsenen uns die ganze Zeit sagen, ‚mach dies, mach das, mach jenes‘ und wir dürfen unseren Senf nicht dazu geben.“
„Wenn alles von oben diktiert wird, dann macht es keinen Spaß!“ – Philipp Spindler, arbeitet in einer Wohngruppe
Freiheit mit Grenzen
Selbstverständlich hat auch diese Freiheit zur Mitbestimmung ihre Grenzen. Schließlich müssen die Kinder und Jugendlichen wie alle anderen in ihrem Alter unter der Woche morgens pünktlich und fit in der Schule sitzen. „Es gibt halt diese Grenzen von außen, die wir nicht verändern können“, erklärt Philipp Spindler, Sozialpädagoge in der Wohngruppe. Jaqueline versteht das. Allerdings gibt es im Alltag oft Spielräume, die ausgehandelt werden wollen. Das ist durchaus herausfordernd. „Es gibt eine Vorgabe, dass es Partizipation geben soll. Wie genau man die umsetzt und in welchem Umfang Mitbestimmung stattfindet, entwickelt jede Gruppe weitgehend selbst. Das ist immer angepasst an die Klient*innen. Und ältere Kinder können natürlich eigenverantwortlicher handeln, als jüngere, die noch etwas mehr an die Hand genommen werden müssen“, beschreibt Philipp die vielfältigen Einflussfaktoren.
Mitbestimmung ist wichtig – und eine Herausforderung
„Ich habe das in meiner Familie überhaupt nicht gelernt, so mitzubestimmen. Und ich bin am Anfang auch eher sehr leise und schüchtern gewesen.“ – Jaqueline, wohnt in einer Wohngruppe
Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die in eine Wohngruppe einziehen, sind darin geübt, für sich selbst einzutreten. Je nach dem, was sie in ihren Familien erlebt haben, bestehen sogar Ängste. Erziehungs-Expert*innen sind sich einig, dass es für junge Menschen, die in Wohngruppen aufwachsen, besonders wichtig ist, Beteiligung und Beschwerde kennenzulernen und zu üben. Das wird in den Wohngruppen auch gezielt angegangen. So ist Jaqueline sogar zu einer Tagung gefahren, wo sie sich mit anderen jungen Menschen zu Mitbestimmung austauschen und diese üben konnte. Die Kinder und Jugendlichen individuell an das Thema heranzuführen, ist eine Herausforderung, die Philipp und seine Kolleg*innen meistern müssen.
Eine weitere ist, dass neben dem, was innerhalb der Gruppe und zwischen der Gruppe und den Erziehenden geklärt werden muss, auch beispielsweise die Eltern, das Jugendamt und ein*e vom Jugendamt bestimmte*r Vormund mit einbezogen werden müssen. „Es kann also kompliziert werden“, sagt Philipp.
„Deswegen ist es wichtig, da im Gespräch zu bleiben und einen Konsens zu finden.“ – Philipp Spindler
Mitbestimmung stärkt Kinder und Jugendliche
Gerade, wenn die Kinder und Jugendlichen Zeit mit und bei ihren Eltern verbringen, können ihr gewachsenes Selbstbewusstsein und Streben nach Eigenverantwortung zu Auseinandersetzungen führen. Zum Beispiel, wenn die Eltern ohne Diskussion andere Regeln für den abendlichen Ausgang für die Zeit des Besuchs festlegen. Da müssen Philipp und seine Kolleg*innen dann überraschten Eltern erklären, warum ihr mitunter lautstark protestierendes Kind andere Regelungen und Entscheidungswege einfordert. Langfristig, da sind sich Jaqueline und Philipp aber auch alle Expert*innen einig, ist die Entwicklung zu mehr Autonomie für die Kinder ein großer Gewinn. „Diese Stärkung soll die Kinder und Jugendlichen für künftige schwierige Situationen und Konflikte inner- und außerhalb ihrer Familien wappnen“, sagt Philipp.
Jaqueline hat sich in Bezug darauf gut entwickelt. Einst schüchtern, unterstützt und stärkt sie inzwischen andere in ihrer Wohngruppe und nimmt ihre Rolle als Sprecherin sehr ernst. Und bis sie irgendwann ausziehen muss, will sie auch gerne Sprecherin der Wohngruppe bleiben und so mehr mitbestimmen.