Es ist angerichtet, so wie jeden Abend um 18 Uhr. Wurst und Käse stehen auf dem Tisch, daneben frisches Gemüse und Aufstriche. Sobald die ersten Brote geschmiert sind, kommen auch die Themen des Tages auf den Tisch: Maurice, 14 Jahre alt, erzählt von seinem Praktikum, das er im Einzelhandel macht. Dass es recht eintönig sei, stundenlang nur Kleidung zu sortieren, es ihm aber doch ganz gut gefalle. Roberto, auch 14 Jahre alt, möchte sein Bekleidungsgeld ausgezahlt bekommen, damit er sich einen „stylischen“ Pullover kaufen kann. Und Maria will später noch zum Discounter gehen, um ihr Handy-Guthaben aufzuladen. Aber wie geht das noch mal? Roberto bietet seine Hilfe an. Kein Problem, sagt er, als er auf seinem Stuhl wippt und ins Salami-Brot beißt.
Vieles erinnert an einen ganz normalen Familienalltag, wenn die Kinder und Jugendlichen beisammen sitzen und Abendbrot essen. Etwas aber ist anders: Nicht die leiblichen Eltern sitzen mit am Tisch, sondern an diesem Abend ist es Erzieherin Inga Klempnauer, Teamleiterin bei den „Füchsen“. So nennt sich die Wohngruppe von acht Kindern und Jugendlichen, die in einer Doppelhaushälfte im Stadtteil Wersten leben. Alle haben hier ein eigenes Zimmer, im Keller sind die Büroräume untergebracht, im Erdgeschoss, wo sie gerade Abendbrot essen, befindet sich das geräumige Wohn- und Esszimmer mit Blick aufs Riesentrampolin im Garten.
Rund um die Uhr sind mindestens eine Pädagogin oder ein Pädagoge der Diakonie Düsseldorf im Haus. Sie helfen beim Packen des Schulranzens, kontrollieren die Hausaufgaben und begleiten die Kinder bei allem, was sie im Alltag bewegt. „Wir leben wie in einer Familie zusammen“, sagt Inga Klempnauer, als der Tisch wieder abgeräumt ist und die Kinder lesen, Playstation spielen oder sich in ihre Zimmer zurückgezogen haben.
Die Gründe, weshalb sie nicht bei ihren leiblichen Eltern leben, sind ganz unterschiedlich, erzählt die Erzieherin. In einigen Fällen seien Mutter oder Vater erkrankt und könnten die Erziehung ihrer Kinder mehr nicht leisten. Andere Kinder seien vernachlässigt worden, hätten Gewalt erlebt und lebten daher in der Wohngruppe. „Wir sind dafür da, den Kindern ein stabiles Zuhause zu bieten, in dem sie sich gut entwickeln können.“
Kontakt zu den Familien ist erwünscht
Die meisten Kinder im Alter von zehn bis 17 Jahren leben dauerhaft in der Wohngruppe. Wenn möglich, bringen sich die Eltern ein: Sie helfen etwa beim Streichen der Wände oder bei Aufbauarbeiten, nehmen an Sommerfesten teil und besuchen ihre Kinder in der Wohngruppe. „Kontakt zu den Familien ist erwünscht“, sagt Inga Klempnauer. Wenn es die Lebensumstände zuließen, werde langfristig auch eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern angestrebt.
In der Zwischenzeit übernehmen die Pädagoginnen und Pädagogen der Diakonie die Erziehung. Über die Jahre sei die Bindung sehr eng geworden, erzählt Erzieherin Klempnauer. „Man fühlt bei allem mit.“ Ja, sie sei mit Herzblut dabei und selbst aufgeregt, wenn Zeugnisse vergeben würden – wie eine Mutter, ohne diese aber ersetzen zu wollen.
Die Kinder merken, dass jemand da ist, der Verantwortung übernimmt und für sie da ist, auch an diesem Abend: Als Maria vom Einkaufen zurück und noch den Fahrradhelm auf dem Kopf hat, nähert sie sich ihrer Erzieherin. Eine Umarmung, die mehr sagt als Tausend Worte: Sie legt von hintern beide Arme um die Schultern ihrer Erzieherin und schmiegt zur Begrüßung den Kopf leicht an. Und dann wendet sie sich ihrem Smartphone zu, um endlich ihr Guthaben aufzuladen.
Inga Klempnauer blickt zu Maurice, der sich zu ihr an den Tisch gesetzt hat. „Sollen wir jetzt die Karte schreiben?“, fragt sie. Die beiden hatten vereinbart, dass sie eine Geburtstagskarte für seinen Vater verfassen wollen. Ein Foto, das sie beilegen möchten, haben sie schon vor ein paar Tagen ausgedruckt. Maurice ist darauf in Verkleidung eines „Hylianers“ zu sehen – ein elfenartiges Wesen aus dem Videospiel „Die Legende von Zelda“, mit langen, spitzen Ohren und besonderen Fähigkeiten.
Eine zweite Familie
Wenn Maurice seinen Vater alle 14 Tage übers Wochenende zu Hause besucht, spielen die beiden das Spiel häufig. Bei gutem Wetter unternehmen sie auch etwas an der frischen Luft oder gehen schwimmen. „Ich habe einfach eine sehr starke Verbindung zu meinem Vater“, sagt Maurice, als die Geburtstagskarte vor ihm liegt. Er würde auch gerne bei ihm leben, aber da seien noch die vielen Halbgeschwister. Viel mehr erzählt er nicht dazu. Aber es wird klar, dass er der Wohngruppe viel Positives abgewinnen kann. „Man könnte das eine zweite Familie nennen“, sagt Maurice. „Oder ein zweites Zuhause.“
Jetzt aber zur Karte, die ausgeklappt vor ihm liegt. Was soll er schreiben? Ein Brief an den Vater – Schriftsteller wie Franz Kafka oder Philipp Roth haben diesem Stoff zu Büchern verarbeitet; aber da waren sie auch deutlich älter. Maurice überlegt erst einmal, wie er anfangen soll. Mit „Hallo Papi“ könne er ja beginnen, schlägt Inga Klempnauer vor. Das sei nicht schlecht, meint Maurice, aber nicht sein Stil. Er entscheidet sich für: „Lieber Papa“. Hm, und dann? „Ich wünsche dir zum Geburtstag alles Gute.“ Mit diesem Satz, meint er, könne er nicht nichts falsch machen. Maurice schreibt die Wörter und pustet die Tinte trocken. Er könne noch einen Witz machen, sagt er: „Jetzt bist du ein alter Sack.“ Das würde sein Vater schon verstehen. Oder doch nicht? Er verzichtet auf den Satz und unterschreibt am Ende mit „Dein Maurice“.
Am Wochenende will er seinen Vater besuchen und ihm auch Foto und Karte geben. „Dein Vater wird sich bestimmt so freuen, dass ihm die Tränen kommen“, sagt Inga Klempnauer. „Der wird vom Stuhl fallen.“ Maurice solle ihr unbedingt jedes Detail von der Geschenkübergabe erzählen, sagt sie. Kein Problem, meint Maurice trocken. Jetzt will er den Abend in Ruhe ausklingen lassen und „absolut chillen“.