Kinder mit Autismus nehmen gerne alles wörtlich und tun sich schwer im Umgang mit anderen. Doch Anke Rockel, Leiterin des Autismus Kompetenzzentrums, ist sich sicher: Mit dem richtigen Training lässt sich viel Verständnis wecken - auf beiden Seiten.
Ist das jetzt einfach nur die Pubertät? Oder ist Paul* tatsächlich Autist? Wenn Nathalie Peters* ihren Sohn beobachtet, ist sie sich da manchmal gar nicht so sicher. Natürlich sei Paul ein bisschen anders als andere Jungen in seinem Alter, erzählt Peters. Zum Beispiel interessiere sich der 16-Jährige nicht wirklich dafür, wie es seinem Gegenüber gerade gehe. Oft beharre Paul auch stur auf seiner Meinung, selbst wenn sich diese ganz einfach widerlegen lasse - etwa wenn es um die Aussprache englischer Vokabeln geht. Und Paul sage - aber das sei für eine Mutter nicht das Schlechteste - praktisch immer die Wahrheit. „Er erzählt mir alles, selbst, dass er neulich mit Freunden zum ersten Mal heimlich Alkohol getrunken hat“, sagt Peters. Sie lächelt.
Autismus-Spektrums-Störung - unter dieser Bezeichnung sind verschiedene Formen von Autismus zusammengefasst. Das Diagnose-Verfahren ist komplex. Darum haben Eltern oft bereits einen langen Weg hinter sich, bis sie wissen, was mit ihrem Kind eigentlich los ist. Eine Kinderärztin oder ein Kinderarzt kann in der Regel nur eine erste Vermutung äußern. Die Diagnose übernehmen dann die Expertinnen und Experten. Auch Peters hat mehrere Jahre nachden Ursachen für die Probleme ihres Sohnes gesucht. Als ein Arzt erklärte,es könne sich um Autismus handeln, hat sie dennoch gezögert, mit ihrem Sohn zu einem Experten zu gehen. Sie hatte Sorge davor, das Leben ihres Sohnes dadurch zu sehr in eine bestimmte Richtung zu drängen. „Mein Sohn ist ein bisschen anders“, sagt sie. „Aber sind wir nicht alle ein bisschen autistisch?“ Irgendwann entschied sie sich dann doch für den Test. Damals war Paul nur noch schwer dazu zu bewegen, am Unterricht teilzunehmen. Er war gerade in die 5. Klasse gekommen.
Menschen mit Autismus sind Konstrukteure ihrer eigenen Welt
„Bei Autismus sind die Ärztinnen und Ärzte sehr zurückhaltend mit der Diagnose“, sagt Anke Rockel vom Autismus-Kompetenzzentrum der Diakonie Düsseldorf. „Möglicherweise tun sie sich aber auch einfach schwer damit, weil die Störung sich so unterschiedlich äußern kann.“ Manche Betroffenen können zum Beispiel bei rechtzeitiger Förderung später ein weitgehend normales Leben führen, andere Kinder sind ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Kinder mit Autismus-Spektrums-Störung fallen - unabhängig davon, wie ausgeprägt diese ist - durch sich wiederholende Verhaltensweisen auf. Sie ordnen zum Beispiel ihr Spielzeug immer wieder nach einem bestimmten Muster. Außerdem wissen sie häufig nicht, wie sie sich gegenüber anderen Menschen verhalten sollen, und haben Schwierigkeiten, mit anderen Menschen zu kommunizieren.
„Wird ein Kind in der Schule aus Versehen angerempelt, kann es das als persönlichen Angriff auffassen“, sagt Rockel. Ein ironischer Ausspruch wie: „Das hast du aber toll gemacht“ führe bei einem Kind mit Autismus-Spektrums-Störung leicht zu Missverständnissen. Es glaubt dann wirklich, dass ihm etwas besonders gut gelungen ist. „Auch emotionale Gesprächsinhalte können Kinder mit Autismus nur schwer erfassen. Sie dozieren lieber über Themen, die nicht allzu viele Interpretationen zulassen, und das gerne stundenlang: zum Beispiel über Wolken, Vulkane oder Edelsteine, das Bahnnetz oder Autos.“ Anke Rockel, die durch ihre Arbeit in gewisser Weise zu einer Expertin für Sonderinteressen geworden ist, schätzt, dass deshalb bei vielen Kindern mit Autismus das Spiel Minecraft so beliebt ist. „Da müssen die Kinder nicht mit anderen kommunizieren, sondern sind Konstrukteure ihrer eigenen Welt.“
Die Eltern sind mit im Boot
„Damit die Kinder sich auch in der realen Welt zurechtfinden, braucht es Training.“ Menschen mit Autismus kennen ihre eigene Perspektive ganz gut. Sie verstehen nur nicht, was das Gegenüber will. Das erklären wir ihnen und üben mit ihnen ein, wie sie sich entsprechend verhalten können. Das gilt auch für Kinder, die an einer so schweren Form von Autismus leiden, dass sie auf den ersten Blick überhaupt nicht dazu in der Lage zu sein scheinen, sich zu äußern. Ihnen bringen Rockel und ihr Team zum Beispiel bei, Kommunikationshilfen zu nutzen. Dazu zählen Tafeln mit Piktogrammen oder ein Talker, über den die Kinder Antworten abspielen können. Die Eltern sind dabei immer mit im Boot. Sie bekommen zum Beispiel zu Hause Tipps an die Hand, wie sie mit ihrem Kind in schwierigen Situationen besser umgehen können. Da wird auch schon mal der Chef gemaßregelt.
Die Mitarbeitenden des Autismus-Kompetenzzentrums sind auch mit Schule oder Ausbildungsplatz in Kontakt. Denn Studien zeigen: Nur 15 Prozent der Menschen mit Autismus, die eine Ausbildung gemacht oder ein Studium absolviert haben, finden später auch einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das liegt unter anderem daran,dass das Verhalten von Menschen mit Autismus für die anderen Mitarbeitenden oft nicht nachvollziehbar ist. „Da heißt es dann: Der guckt mich nie richtig an, der geht in keiner Mittagspause mit, der arbeitet immer für sich allein“, sagt Anke Rockel. Hinzu komme, dass Menschen mit Autismus oft unbequem seien und kein Gefühl dafür hätten, wie ihre Rückmeldungen wirklich ankommen.
Da wird dann auch schon mal der Chef gemaßregelt.
Gemeinsam mit dem Jobcenter arbeitet das Autismus-Kompetenzzentrum deshalb daran, Unternehmen für die Bedürfnisse von Menschen mit Autismus zu sensibilisieren und Menschen mit Autismus entsprechend zu fördern. „Denn Menschen mit Autismus sind ein echter Gewinn für Unternehmen. Sie haben nämlich auch Spaß an Arbeiten, auf die die anderen Mitarbeitenden eher keine Lust haben. Zum Beispiel übernehmen sie auch gerne sehr monotone Aufgaben“, sagt Rockel.
Paul geht mittlerweile in die 9.Klasse. Er hat einen Integrationshelfer zur Seite gestellt bekommen, der ihn dabei unterstützt, wenn ihn die Schule überfordert. Der Integrationshelfer ermutigt ihn zum Beispiel, bei einem Test nicht gleich aufzugeben, nur weil er die Antwort auf die erste Frage nicht weiß. Außerdem trifft Paul sich alle zwei Wochen mit anderen Jugendlichen im Autismus-Kompetenzzentrum, um den Umgang mit anderen Menschen zu trainieren. Nathalie Peters hat ein Elterntraining mitgemacht, das ihr geholfen hat, in schwierigen Situationen gelassener zu reagieren. Was Paul später mal beruflich machen möchte, weiß er noch nicht. Seine Freunde, die Playstation und das Radfahren sind ihm im Moment wichtiger. Wie das bei Pubertierenden eben manchmal so ist.
*Name geändert