Man muss die Zukunft nicht kennen, um von ihr träumen zu können. Obwohl Krieg und Krisen die Gegenwart bestimmen, wünscht sich Transformations- und Gesellschaftsforscher Stefan Selke mehr Mut, um mit einer „Poesie der Hoffnung“ auf die Zukunft zu blicken.
Grafik: Fons Hickmann/m23
Gespräch: Thomas Becker
Stefan Selke:
Ich denke zunächst an eine vergangene Zukunft und stelle mir die Welt um das Jahr 1900 vor. Damals brachen sogenannte Lebensreformer zum Lago Maggiore auf, um das Experiment Monte Verità zu gründen, also den Berg der Wahrheit. Eine Gruppe von Zivilisationsmüden und Utopieeifrigen wollte auf einem Hügel oberhalb des Sees neue Formen des Zusammenlebens erproben. Sie suchten eine Gesellschaftsordnung jenseits von Kapitalismus und Kommunismus. Ihre Ideen umfassten innovative Formen des Arbeitens, des Wirtschaftens, der Ernährung, Kleidung, Sprache und vieles mehr – alles Felder, die aus Sicht eines Soziologen eine Gesellschaft ausmachen. Warum haben Sie gerade an dieses Projekt gedacht? Ich finde es wichtig, in den Rückspiegel der Geschichte zu schauen. Man erkennt, dass Prognosen und Szenarien zur Zukunft eigentlich ein Seismograph der jeweiligen zeitgenössischen Gesellschaft sind. Zukunftserzählungen sind somit Gegenwartsdiagnosen. Wenn ich mir also eine Welt von morgen vorstelle, dann sehe ich Menschen, die Zukunftsarmut, wie ich es nenne, überwunden und in Zukunftsreichtum umgewandelt haben. Auf dem Berg der Wahrheit wäre beinahe eine neue Zukunft entstanden. Leider machte der Erste Weltkrieg alles zunichte.
Selke:
Ich habe mich vor allem mit realutopischen Experimenten befasst, bei denen Menschen aufbrachen, um ihre Ideen als Lebenslabore in der Praxis zu erproben. Davon abzugrenzen sind literarische Utopien, von denen es sehr viele gab: den Roman „Utopia“ von Thomas Morus etwa oder „Der Sonnenstaat“ von Tommaso Campanella. Immer geht es dabei um eine ideale Gesellschaft. Vor allem im 19. Jahrhundert haben wir es mit Idealstädten und Reformkolonien für neue Zivilisationen zu tun, die in die Praxis umgesetzt wurden. Monte Verità war nur ein Experiment, ein anderes – ein paar Jahrzehnte später – war Fortlândia: Ende der 1920er Jahre wollte der Großindustrielle Henry Ford die amerikanische Zivilisation ins Hinterland Brasiliens transplantieren. Im Amazonasbecken ließ er eine riesige Plantage und eine Arbeiterstadt errichten. Es war ein größenwahnsinniges Projekt, für das man heute in Grund und Boden kritisiert würde. Aber damals empfand man es als Fortschritt. In Brasilien wurde Ford als Messias empfangen.
Selke:
Im Kern aus drei Gründen: zum einen an überzogenen idealistischen Erwartungen. Praktisch jede Utopie hat einen Fluchtpunkt, der sehr weit in der Ferne liegt. Oft bricht das im Alltag auseinander. Menschen können nicht dauerhaft die Fallhöhen utopischer Visionen ertragen. Mein Lieblingsbeispiel stammt erneut aus Monte Verità: Die selbsternannten Lebensreformer haben sich nachts weggeschlichen und es sich bei Edelsalami und Rotwein gutgehen lassen. Zudem wurden viele Labore von idealistischen Menschen gegründet, die weitere idealistische Menschen anzogen. So entstand ein Überhang von Idealisten, die sich abstrakte Gedanken machten, und ein Mangel an praktischer Umsetzung. Es gab also zu viele Bosse und Vordenker und es krankte an Followern. Ein dritter Punkt: Viele Projekte wurden sehr paternalistisch gelebt. Es gab meist männliche Bosse, die Regeln vorgaben. Eine Charta, eine Mission oder ein Manifest wurden verfasst. Wer mitmachte, musste sich genau daran halten. Überall gab es diese Regelwerke, kodifiziert oder informell. Das zeigt, dass aus einer guten Idee, das Leben besser zu machen, schnell eine Zwangsveranstaltung, etwas Sektenhaftes werden kann. So entsteht ein Selbstwiderspruch: Man will zwar eine befreite Welt, aber der strenge Regelkanon verhindert genau das.
Selke:
Anders als bei Trends oder Hypes hat eine Utopie einen Zyklus, der langfristige Metamorphosen repräsentiert. Es beginnt mit der Sehnsucht nach Veränderung, dann folgt eine Planungsphase, die durch die Suche nach einem Ort der Verwirklichung geprägt ist. Anschließend kommt es zur Überführung der Utopie in den Alltag. Es folgen Krisen, manchmal Katastrophen. Das führt zum Scheitern. Doch darauf folgt die Metamorphose als Suche nach einem Neuanfang an anderer Stelle. Die Utopie lebt als Idee weiter. Das zeigt den Wert des langfristigen Denkens: Wer sein Ideal erreichen will, gibt nicht gleich auf. Zudem lässt sich durch Utopien etwas über den Wert von Kooperationen lernen: also das eigene Ego in den Hintergrund zu stellen, an das gemeinsame Ziel zu glauben. Das lässt sich an vielen Stellen beobachten.
Selke:
Ich habe mich mal eine Weile in einem Benediktinerkloster im baden-württembergischen Beuron aufgehalten. Die Mönche dort haben eine riesige Bibliothek für theologische Bücher und begannen, den Bestand zu digitalisieren. Auf meine Frage, wie lange sie dafür bräuchten, antwortete der bibliotheksleitende Mönch: „Nicht lange, vielleicht 70 bis 80 Jahre.“ In diesem Satz steckt auf wunderbare Weise die Idee von Zukunftsreichtum. Denn wer so denkt, kann sich eine Zukunft vorstellen, die über die eigene Lebenszeit hinausgeht. Man versteht sich als Teil einer zivilisatorischen Mission. Es geht dann gerade nicht darum, eine schnelle Belohnung, etwa im Sinne eines Karrieresprungs, abzugreifen, sondern darum, einen Beitrag zu einem gemeinsamen Vorhaben zu leisten. Das utopische Kapital besteht im präfigurativen Denken, also in der Vorstellung einer Welt, die es noch nicht gibt, aber geben könnte. Denken im Als-ob-Modus. Daraus resultiert Zukunftseuphorie. Genau daran fehlt es gegenwärtig.
Selke:
Wir erleben gerade zahlreiche individuelle, kollektive und planetare Erschöpfungssyndrome. Ich nenne es das Monster der Bodenlosigkeit: ein Gefühl, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Wenn es keine zufriedenstellenden Lebensentwürfe mehr gibt, mündet das in Resignation, Demoralisierung, Hoffnungslosigkeit, Utopiemüdigkeit. Wer heute Utopien äußert, wird als Träumer beinahe in die Nähe von Geistesgestörtheit gerückt.
Selke:
Ja. Natürlich haben wir in Deutschland negative Erfahrungen mit großen politischen Utopien gehabt. Aber wir sollten nicht jede Utopie kleinreden, sondern den Mut aufbringen, große Ideen zu äußern. Wenn wir über die Zukunft reden, haben wir es heute jedoch mit der Reproduktion von Standardwelten zu tun, mit Verdopplung, Optimierung, den kleinen Schritten. Es geht darum, in Zukunft alles besser, intelligenter, rationaler zu machen. Das bezeichne ich als ein Anpassungsnarrativ. Als Symbol des Stillstands. Anpassung geht davon aus, nicht zu viel zu wollen, kein Risiko einzugehen. Ein solches Narrativ ist von Mutlosigkeit geprägt. Ich bin gerade sehr unglücklich darüber, dass die Anpassung als Leiterzählung für unsere Gesellschaft in der Post-Corona-Zeit gehypt wird. An alles Mögliche – an Zwänge, Vorgaben, das Fahren auf Sicht, was wir in der Corona-Zeit hatten. Ein Anpassungsnarrativ der Zukunft geht davon aus, dass es ein Normal gibt – wie vor Corona. Und da wollen viele wieder hin. Ich fordere das Gegenteil: Die Welt ist dynamisch. Es kann nur einen Aufbruch in neue Welten geben. Daher plädiere ich dringend für Aufbruchsnarrative. Sie würden dazu führen, dass Menschen wieder Motivgeschichten entwickeln, die ein starkes Wir-Gefühl ermöglichen. Jeder Aufbruch geht ja mit starken Motivgeschichten einher, die sich Menschen gegenseitig erzählen. Diese starke, verbindende Kraft dieser Geschichten sollten wir wiederentdecken.
Selke:
Schauen wir uns den aktuellen Hoffnungsbarometer der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung aus dem Jahr 2022 an. Er zeigt, dass sich die meisten jungen Menschen nicht mehr vorstellen können, einen aktiven Beitrag zur Gestaltung der Welt leisten zu können. Es mangelt an Utopien und Zukunftseuphorie. Aber Euphorie bedeutet zugleich Motivation und Gestaltungswille statt Resignation und Konsum. Utopisches Denken fördert zudem Selbstwirksamkeit. Transformation ist kein geplanter Event, bei dem ein Unternehmen das Ziel vorgibt. Transformation ist eine Veränderung der inneren Haltung. Euphorie für Transformation bedeutet, sich als Change-Agent zu verstehen, als Mitgestalter dieser Welt.
Selke:
Religionen zeichnen sich durch zwei Komponenten aus: eine Substanzkomponente – da geht es um Glaube, Transzendenz, das Göttliche – und eine funktionalistische Komponente. Da steht das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gläubigen im Vordergrund. Religionen sind in westlichen Gesellschaften allerdings auf dem Rückzug. Es entsteht eine Lücke, ein Gravitationszentrum, das nicht besetzt ist. Zukunftseuphorie im Sinne eines visionären Pragmatismus, die ohne Jenseitsvorstellung und Transzendenz von einem verheißungsvollen Morgen erzählt und dennoch Menschen mitreißt, könnte diese Lücke schließen.
Selke:
Es stimmt: Engagement von Menschen tritt heute fragmentierter und projekthafter auf. Die Lösung kann jedoch nicht darin bestehen, eine große Utopie zu entwerfen und darüberzustülpen. Politik und andere Akteure sollten eher versuchen, Engagementfelder zu vernetzen. Es wäre ein großer Gewinn, wenn man es schaffte, Engagement etwa der Flüchtlingshilfe, Jugendhilfe, Suchthilfe oder der Umweltbewegung zu vernetzen. Es geht darum, den gemeinsamen Kern herauszuarbeiten. Vielleicht entsteht auf diese Weise etwas viel Stärkeres, etwas, das ich Zukunftseuphorie nenne. Eine Utopie oder ein Ziel von oben vorzugeben, funktioniert definitiv nicht. Eine Ermöglichungsstruktur von unten ist dagegen vielversprechender.
Selke:
Zukunft ist immer im Plural zu verstehen. Und diese Zukünfte sind eine Bastelaufgabe, ein Experiment. Der Soziologe Ulrich Beck hat schon vor langer Zeit herausgearbeitet, dass die Praxis zum Labor werden solle, wie er das nannte. Heute ist auch die Rede von einer experimentellen Gesellschaft. Es geht darum, neue Erkenntnisformen, neue Wissensformen zuzulassen und nicht im Knowhow – also im instrumentellen Wissen – zu verharren. Es braucht zudem eine reflexive Wissenskomponente, Knowwhy: Warum soll etwas auf eine bestimmte Weise gemacht werden? Drittens geht es um eine Know-what-Komponente: also darum, Wissen in Handeln zu transformieren. Nur mit einer guten Balance dieser drei Komponenten lassen sich progressive Gesellschaftsentwürfe verwirklichen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.
Selke:
Lokale Mikrokosmen oder Mikro-Politiken sind Teil dieser Zukunft. In Seminaren bitte ich Student*innen, zukunftsweisende Projekte vorzustellen. Wir bemerken bei näherer Betrachtung fast immer, dass sie nicht auf die gesamte Gesellschaft übertragbar sind. Dennoch sind sie wertvoll, weil Menschen etwas zusammen gestalten. Das ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit. Der französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel kritisierte Gleichgültigkeit als das größte Übel. Meiner Meinung nach ist das wirksamste Mittel gegen Gleichgültigkeit, sich in Projekten zu engagieren, zu denen man eine Verbindung hat. Von denen man eine eigene Motivgeschichte erzählen kann. So kann etwas Neues entstehen, das man sich zuvor nicht vorstellen konnte.
Selke:
Dazu muss ich etwas ausholen. Ich arbeite im Moment im Hauptquartier der Europäischen Weltraumorganisation ESA in Paris. Der Ausspruch „Failure ist not an option“ während der Apollo-Mission zum Mond wird hier hochgehalten. Scheitern war keine Alternative. Bei einer Weltraummission muss das auch so sein. Alles muss perfekt funktionieren. Eine Gesellschaft ist jedoch keine kontrollierbare Einheit, sondern ein Labor ohne Wände. Und in dieser Versuchsanordnung gehört Scheitern essenziell zum Lernen. Scheitern ist sogar ein zentrales Regulativ. Es bringt uns dazu, Konflikte anzuerkennen und nach Lösungen zu suchen. Das unterscheidet gesellschaftliche Labore von naturwissenschaftlichen. Oft hören wir aber auch in gesellschaftlichen Diskussionen, dass alle Störfaktoren ausgeschaltet werden sollen. Alles muss rational sein und effizient. Als bräuchten wir nur Technologien und bekämen so jedes Problem in den Griff. Aber so funktioniert Mensch-Sein nicht, Leben ist keine Funkionsstörung.
Selke:
Das kann ich empirisch nicht beantworten, aber ich habe für einen Vortrag kürzlich die Studie eines ukrainischen Soziologen recherchiert. Demnach ist für 70 Prozent aller Ukrainer*innen Hoffnung das zentrale Gefühl, wenn sie an die Zukunft denken. Nicht Resignation. Das hat mich umgehauen. Es spricht dafür, dass es so etwas wie eine Poesie der Hoffnung gibt, die aus jeder Krise erwächst. Denn jede Krise hat auch ein Danach. Wenn wir nicht mehr daran glauben, dass es ein Danach gibt, führt das zur Demoralisierung. Wir müssen an ein Danach glauben, nur so kann die Poesie der Hoffung entstehen.
Selke:
Ich halte es für unseriös, mir ein bestimmtes Zukunftsszenario auszumalen. Das ist Trendforschung. Das ist Marketing. Als Gesellschaft- und Transformationsforscher sehe ich Traditionslinien und Verbindungen, die sich wiederholen. Mir geht es um das Wahrnehmen von Zukunft und wie wir darüber reden. Man sollte Zukunft nicht als isolierten Bereich betrachten, über den nur einige wenige wie ein moderner Orakelersatz etwas sagen können. Zukunft tragen wir immer in uns – als Potenzial. Mit praktischen Auswirkungen. Denn wie Zukunft gestaltet wird, ist eine Folge unserer Zukunftsnarrative. Daher frage ich: Wie erzählen wir eigentlich von der Zukunft?
Selke:
Schon, es gibt Ansätze wie das Projekt Tamera in Portugal, eine Metamorphose von Monte Verità, oder sozioökologische Kommunen wie Sieben Linden bei Wolfsburg. Auch Menschen wie Julia Fuchte entwerfen utopische Zukunftsgeschichten. Sie alle sind professionelle Träumer und laufen Gefahr, ausgelacht zu werden. Zukunftsgestaltung ist eine Riesenaufgabe. Dazu braucht es Wiederholung. Nochmals Helmut Schmidt, der sagte: Wenn du von etwas überzeugt bist, reicht es nicht, es ein Mal zu sagen. Du musst den Mut haben, es 40 Mal zu wiederholen. Ab einer gewissen Zahl von Wiederholungen erzielen Worte ihre Wirkung. Darin sehe ich meine Aufgabe zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.
Selke:
Meine Botschaft lautet: Das Mittel gegen Zukunftsknappheit, die aus Resignation, Demoralisierung oder Erschöpfung resultiert, kann nur Zukunftseuphorie sein. Quer zu allen gesellschaftlichen Schichten braucht es Zukunftseuphorie. Und dazu benötigen wir progressive Zukunftsnarrative, die vom Aufbruch erzählen. Das ist für mich die Kernbotschaft: Das Verharren in Anpassungsnarrativen, das Verdoppeln von Standardwelten drückt Mutlosigkeit aus. Das ist ein schlechtes Vorbild für die kommende Generation. Ein Narrativ erfindet man aber nicht einfach so. Daran mitzuarbeiten, ist eine kollektive Aufgabe. Zukunftseuphorie jenseits von Public Relations und Marketing ist eine verantwortungsvolle politische und öffentliche Aufgabe.
Prof. Dr. Stefan Selke lehrt Soziologie und gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen. Er ist Forschungsprofessor für Transformative und Öffentliche Wissenschaft. Als Redner, Buchautor und Blogger sowie Interviewpartner für die Medien ist er regelmäßig auch jenseits der Wissenschaft präsent. In seinem Buch „Wunschland. Von irdischen Utopien zu Weltraumkolonien – eine Reise in die Zukunft unserer Gesellschaft“ (2022) befasst er sich mit Reformkommunen, Planstädten und der Sehnsucht nach Utopien. Aktuell forscht er als Gastwissenschaftler bei der Europäischen Weltraumbehörde ESA in Paris zu Zukunftsnarrativen und Zukunftseuphorie im Kontext von Weltraumexploration.