Zweifel 

Eine Sektenaussteigerin berichtet, wie sie mit den Zeugen Jehovas gebrochen hat 

Grafik: m23/Fons Hickmann

Gespräch: Kira Küster  

Karin Kubusch war 37 Jahre lang Mitglied der Zeugen Jehovas. Wegen ihres Austritts haben ihre Kinder und Enkelkinder den Kontakt zu ihr abgebrochen.

 

Frau Kubusch, was hat Sie zu Beginn an den Zeugen Jehovas begeistert?

Ich wurde bereits 1977, zu DDR-Zeiten, Mitglied der Zeugen Jehovas. In der DDR hatten Kirche oder Glauben keine Bedeutung, es zählten die Werte des Sozialismus. Da ich immer pazifistisch dachte, hat mir gefallen, dass man bei den Zeugen eine Gemeinschaft findet, in der jeder für jeden sorgt, in der man alles gemeinsam tut. Die Brüderlichkeit, die Freundlichkeit, die Verbundenheit der Mitglieder haben mich überzeugt. Und ich dachte, dass man dort im Großen und Ganzen nach den Vorgaben der Bibel leben würde. Ihr Mann wurde erst später Zeuge Jehovas. Mein Mann ist erst vier Jahre nach unserer Heirat in die Organisation eingetreten. Er hatte sich das erst mal mit Abstand angeschaut, sagte dann aber: „Ich kann mir ein Leben bei den Zeugen Jehovas vorstellen.“ Wir sind gemeinsam mit unseren Kindern diesen Weg gegangen und haben unsere Kinder nach den Regeln und Lehren der Zeugen Jehovas erzogen – immer in der Hoffnung und dem Glauben, dass wir damit auf der guten, der richtigen Seite sind.

Wodurch bekamen Sie Zweifel?

Irgendwann in meinem Leben habe ich gemerkt: Hier läuft vieles nicht richtig, und das stimmt auch nicht mit dem überein, was die Bibel sagt. Ich habe aber trotzdem noch sehr lange ausgehalten, weil ich gerne weiter nach den Werten der Bibel leben wollte und wusste, dass ein Bruch mit den Zeugen harte Konsequenzen haben würde. Nichtsdestotrotz habe ich sehr viel Kritik an der Gemeinschaft geübt.

Sie haben gesagt, dass Sie viele Dinge gesehen haben, die bei den Zeugen Jehovas nicht im Einklang mit der Bibel stehen und die für Sie nicht in Ordnung waren. Was konkret meinen Sie damit?

Die Organisation der Zeugen Jehovas wird von einer Reihe älterer Männer in den USA geleitet. Sie behaupten, dass Gott sie mit einem besonderen Geist ausgestattet habe. Um in den einzelnen Ländern, also auch hier in Deutschland, Neuigkeiten dieser „Leitenden Körperschaft“ mitzuteilen, wird eine Zeitschrift gedruckt, der „Wachturm“. Im „Wachturm“ gibt es jede Woche einen Studien-Artikel in einem Frage-Antwort-Format. Dieser Artikel wird immer sonntags von den Mitgliedern besprochen. In diesen Artikeln werden zwar Bibelstellen genannt, aber in erster Linie finden sich darin die Gedanken der Organisation. Die Mitglieder der Zeugen studieren also nicht die Bibel, sondern den „Wachturm“. Und der „Wachturm“ spiegelt die Haltung der Organisationsleitung wider.

Gab es noch andere Dinge, die Sie zweifeln ließen?

Zu DDR-Zeiten haben wir unsere Versammlungen nur in gemieteten Räumen wie Kinos, Sälen, Aulas oder in Firmen abgehalten. Das wollten wir auf Dauer nicht. Und als dann die Wende kam, haben wir von der Organisation Kredite bekommen und die Mitglieder haben ihr eigenes Geld verwendet, damit wir Grundstücke kaufen konnten. Auf diesen Grundstücken haben wir eigene Säle gebaut, die sogenannten Königreichssäle. Als die Situation in den Folgejahren schwieriger wurde, weil die Menschen weniger Geld hatten, hat die Organisation viele Säle geschlossen, die Grundstücke wurden verkauft. Diejenigen, die damals ihr Geld für den Kauf und Bau dieser Säle gegeben hatten, haben aber nie etwas vom Erlös bekommen. Die Organisation hat sich etwas genommen, was ihr nicht zustand.

Der hohe Leistungsdruck machte Ihnen ebenfalls zu schaffen.

Ja, das Wort Gottes zu verkünden, war unsere Hauptaufgabe – es gab großen Druck, den „Wachturm“ in der Fußgängerzone hochzuhalten oder bei den Menschen zu klingeln, um sie von den Lehren der Zeugen zu überzeugen. Egal, ob jemand an Krücken ging oder im Rollstuhl saß, er durfte sich nicht ausruhen, denn er oder sie hatte ja noch einen Mund zum Reden. Selbst wenn ein Handwerker in die Wohnung kam, drückten wir ihm einen „Wachturm“ in die Hand. Denn auch diese Zeit konnte man sich anrechnen lassen. Uns wurde verboten, Weihnachten und Geburtstag zu feiern. Und wir durften nur maximal 14 Tage im Jahr in Urlaub fahren. Die Anerkennung der Organisation beruhte immer nur auf dem, was wir geleistet hatten.

Sie haben sich irgendwann Gedanken über den Austritt gemacht. Wie hat Ihr Mann reagiert?

Als ich gesagt habe, dass ich gehen möchte, wollte mein Mann, der dieselben Zweifel wie ich hatte, noch ein bisschen warten. Wir haben uns darauf geeinigt, der Gemeinschaft noch eine Chance zu geben, Dinge, die falschliefen, zu korrigieren. Aber irgendwann, als sich natürlich nichts veränderte, habe ich den Brief, in dem ich meinen Austritt bekannt gab, geschrieben und abgeschickt. Mein Mann ist noch eine Zeit lang in der Gemeinschaft geblieben, weil er sehen wollte, wie unsere erwachsenen Kinder mit dem Austritt umgehen. Alle meine Kinder sind Zeugen Jehovas, haben dort ihre Partner*innen kennengelernt und ihre Kinder wiederum auch dementsprechend erzogen.

Wie wurde Ihr Austritt aufgenommen?

Als ich mich entschlossen hatte zu gehen, wurde ich aus der Gemeinschaft hinauskatapultiert. Noch an dem Tag, als mein Brief ankam, gab es eine Ansage in den sogenannten Versammlungen der Zeugen. Dort wurde dann verkündet, dass ich nicht länger eine Schwester sei. Gründe dafür, obwohl diese in meinem Brief standen, wurden keine genannt. Ich war 37 Jahre lang dabei gewesen und wurde nun von einem Tag auf den anderen ausgeschlossen.

Wie haben Ihre Kinder reagiert?

Ich habe natürlich gewusst, dass meine Kinder mich nicht mehr in ihre engste Familie hineinnehmen würden, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass sie gänzlich mit mir brechen würden. Eine meiner Töchter, die mein Notfallkontakt war, hat mich besucht und mir meine Vorsorgevollmacht und die Schlüssel zu meiner Wohnung zurückgegeben. Die andere Tochter hat mir einen Brief geschrieben, in dem sie den Kontakt abgebrochen hat, und mein Sohn hat sich gar nicht mehr bei mir gemeldet. In dem Moment hat auch mein Mann begriffen, dass unsere Kinder tatsächlich ernst machen mit dem Kontaktabbruch. Er hat aber trotzdem ungefähr acht Wochen nach mir seinen Austritt erklärt. Zu meinen Kindern und den Enkelkindern hatten wir ab diesem Zeitpunkt keinerlei Kontakt mehr. Das war vor 13 Jahren. Ich habe keinen von ihnen je wiedergesehen. Die Enkelkinder, die nach meinem Austritt geboren wurden, kenne ich nicht. Mein Mann ist 2016 nach langer Krankheit verstorben. Während seiner Krankheit und zu seiner Beerdigung ist keines der Kinder gekommen.

Glauben Sie, dass Ihre Kinder keinen Kontakt mehr zu Ihnen wollten, oder übte die Organisation einfach zu großen Druck aus?

Beides. Bis zu meinem Austritt hatten wir als Familie immer eine gute Verbindung zueinander. Wir haben fast alles gemeinsam gemacht: Es gab oft Familienfeiern, wir haben miteinander die Freizeit verbracht, zum Beispiel beim Wandern. Alles war sehr schön und harmonisch. Nach dem Austritt haben mir meine Kinder in extremer Weise klargemacht: „Ab jetzt bist du draußen, Mutti, du bist von Gott verlassen. Von jetzt an dürfen wir mit dir keinen Umgang mehr haben.“ Dabei bin ich nach wie vor ein gottgläubiger Mensch. Alle Versuche der Annäherung sind gescheitert.

Haben Sie noch Hoffnung, dass Sie doch irgendwann einmal wieder Kontakt zu Ihren Kindern und Enkelkindern haben werden?

Am Anfang hatte ich noch Hoffnung. Aber über all die Jahre haben meine Kinder nie den Kontakt zu mir gesucht, sodass ich heute davon ausgehe, dass mein Austritt ein Abschied für immer war. Kurz bevor ich ausgetreten bin, habe ich meine Tochter und meinen neugeborenen Enkel besucht. Meine Tochter hat gespürt, dass ich mich mit dem Austritt beschäftige, und fragte mich danach. Ich habe zugegeben, dass ich austreten möchte. Am Ende des Besuchs, als sie mich zum Bahnhof brachte, zeigte sie auf meinen Enkel und sagte: „Wenn du austrittst, ist dies das letzte Mal, dass du das Gesicht deines Enkels siehst.“ Dieses Bild, wie ich am Fenster stehe, als der Zug abfährt und sie mit dem Kind im Arm am Bahnhof steht, werde ich nicht mehr los.

Welche gesundheitlichen Folgen hatte der Austritt für Sie?

Ich habe viele Blessuren, die ich jeden Tag mit mir herumtrage. Mit meiner Gesundheit ist es nicht zum Besten bestellt. Ich habe sehr viele Störungen in meinem Körper, die nicht organischer Natur sind, zum Beispiel Herzrhythmusstörungen, Zittern, Schwindelgefühle. Mein Körper wurde komplett durchgecheckt, aber es konnte nichts gefunden werden, was diese Symptome erklärt. Ich fühle mich oft sehr traurig, besonders natürlich an den Tagen, an denen eines meiner Kinder Geburtstag hat oder Hochzeitstag. Dann verstärken sich auch die körperlichen Symptome.

Als Sie gebrochen haben mit den Zeugen Jehovas, was hat Ihnen Halt gegeben?

Ich hatte schon immer eine hohe Selbstdisziplin – das hat auf jeden Fall geholfen. Und es gab immer Menschen außerhalb der Zeugen, zu denen ich Kontakt hatte. Sie sind mir geblieben. Neue Menschen sind hinzugekommen. All jenen, denen ich vorher mit dem „Wachturm“ in der Hand an der Tür gepredigt hatte, habe ich gesagt, dass ich nicht länger bei den Zeugen bin und dass ich mich geirrt habe. Auch mein verstorbener Mann war mir in dieser Zeit eine große Stütze. Als er verstarb, fühlte ich mich sehr allein. Ich bin froh, dass ich noch einmal einen Partner gefunden habe. Er ist ein sehr lieber Mensch, mit dem ich dieselben Werte teile. Wir leben beide christlich und lesen täglich in der Bibel. Er war auch 25 Jahre lang Mitglied bei den Zeugen Jehovas. Aber ich fühle mich nicht mehr so frei und glücklich, wie ich mich mit meiner Familie gefühlt habe.

Haben Sie denn je darüber nachgedacht, zu den Zeugen Jehovas zurückzukehren?

Das war für mich nie eine Option. Und auch wenn meine Kinder dann wieder zu mir kämen, wüsste ich, dass sie mich nicht als ihre Mutter lieben, sondern nur als Glaubensschwester ansehen. Das möchte ich nicht erleben. Außerdem: Wenn Sie einmal erkannt haben, wie falsch die Lehre der Zeugen ist, dann können Sie ihr nicht mehr folgen. Das geht nicht.

Was passiert, wenn Ihnen Mitglieder der Gemeinschaft heute begegnen?

Ich treffe immer mal wieder Leute, mit denen ich 37 Jahre lang Tür an Tür gelebt und die als Gast an meinem Tisch gesessen haben. Manche spucken auf der Straße vor mir aus. Manche grüßen nicht. Es gibt einige wenige, die mich noch ansprechen und die mir sagen, dass ich, wenn ich zurückkommen wollte, sicher wieder aufgenommen werden könnte.

Wie leben Sie Ihren Glauben heute?

Ich habe mich keiner Kirche mehr angeschlossen. Das würde ich auch nie wieder tun. Ich bin heute ein freier Christ. Mein christliches Denken prägt mein Leben weiterhin. Sie engagieren sich bei AUSSTIEG e. V., einer Anlaufstelle für Menschen, die eine Sekte oder einen Kult verlassen wollen oder schon verlassen haben. Der Verein hat in jeder Stadt Ansprechpartner*innen, und ich bin in Berlin eine davon. Mir ist wichtig, dass ich Menschen darüber informiere, dass Sekten vielleicht erst mal einen ganz faszinierenden und überzeugenden Eindruck machen, aber dass es hinter der Fassade nicht so schön aussieht. Es gibt so viele Menschen, die mit ihrem Austritt alles verloren haben und daran schier verzweifelt sind. Hier will und kann ich mit meinen Erfahrungen helfen. 

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