Thema Frieden 44 Ich habe keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, ich hatte ein reiches Leben. Ich liebte und wurde geliebt, ich tanzte, feierte und habe meine Kinder und Enkelkinder aufwachsen sehen. war sie kurz vor dem Termin im Krankenhaus ausgebüxt, weil sie die Diagnose nicht hören wollte. Dabei muss sie schlimmste Schmerzen gehabt haben. Als sie endlich bereit dazu war und die Ärztin ihr erklärte, was Knochenkrebs ist, lächelte sie, erleichtert irgendwie. „Verstehen Sie, was ich sage?“, fragte die Ärztin sie. „Ja“, antwortete Yeranouhy, „aber ich habe keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, ich hatte ein reiches Leben. Ich liebte und wurde geliebt, ich tanzte, feierte und habe meine Kinder und Enkelkinder auf- wachsen sehen.“ Da liegt sie nun – unter einem Maulbeerbaum am Rande der Abteilung der Armenischen Gemeinde auf dem Luisen- kirchhof in Charlottenburg. Der Maulbeerbaum ist wich- tig. So einer stand im Hof der Familie im armenischen Viertel in der Altstadt von Jerusalem. Wenn Yeranouhy etwas ausgefressen hatte und ihre Mutter sie bestrafen wollte, kletterte sie bis nach oben. Dort blieb sie, aß die Maulbeeren und kam erst wieder herunter, wenn der Vater sie abends rief. Ihre Familie hatte Ansehen in Jerusalem, ihre Mutter saß in der Kirche in der ersten Reihe und half bei der Armenspeisung, ein Privileg. Da war der Garten, das Sommerhaus, die anderen Kinder, die armenische Schule. Alles war gut, bis sich der israelische Unabhängig- keitskrieg ankündigte, jemand eine Bombe vor der Altstadt zündet, ein armenischer Junge starb. „Da machte mein Großvater sein Geschäft zu, ging nach Hause und sagte seiner Frau, dass sie zwei Stunden hat, um die Koffer zu packen“, das erzählt ihre Tochter. Sie war es, die ihre Mut- ter in den Tod begleitete. Sie ist es auch, die gerade die Wohnung und damit die Vergangenheit ihrer Mutter sor- tiert. „Mein Großvater, der Vater meiner Mutter also“, so erklärt sie, „hatte 1915 beim Völkermord an den Armeniern fast seine gesamte Familie verloren. Und das wollte er nicht noch einmal erleben.“ Erst lebten sie in einem Bretterverschlag in Amman, der Hauptstadt von Jordanien. Dann bauten sie sich ein Leben in Beirut auf. Yeranouhy studiert Chemie, macht an der amerikanischen Universität von Beirut eine Ausbil- dung zur Medizinisch-technischen Assistentin, lernt dort einen deutschen Biologen kennen. Sie heirateten, bekamen zwei Kinder, dann kam der Bürgerkrieg und Yeranouhy ging mit ihm nach Deutschland. Ihre Tochter führt zwischen den armenischen Gräbern hindurch. Erzählt von der Geschichte dieser oder jener Familie. Sie spricht davon, wie es ist, wenn man nirgends eine Heimat hat, und wie es ist, über den Globus verstreut zu sein, getrieben von Krieg und Vertreibung. „Heimat – für meine Mutter war das entweder Jerusalem oder gar nichts“, sagt sie. Doch diese Heimat ist nur noch Erinne- rung. Kaum noch Armenier leben in dem alten Viertel, in dem Haus wohnt eine andere Familie und die Gesellschaft ist eine andere geworden. Das Gleiche gilt für Beirut. Einmal, da war Yeranouhy schon in Rente, versuchte sie es mit Armenien. One-Way-Ticket, die Tochter hatte den Auftrag, die Wohnung aufzulösen, falls sie nicht mehr zurückkommen sollte. Nach zwei Wochen war sie wieder da. Auch in Armenien war sie eine Fremde. Schwer zu erklären sei das, sagt die Tochter. Ihre Mutter sei warm- herzig und offen gewesen. Immer kochte sie mehr als genug, immer waren die Nachbarn eingeladen, bei Kindern war Yeranouhy beliebt, weil sie mit ihnen Quatsch machte. Einsam war Yeranouhy nie, richtig angekommen sei sie aber auch nie. Nun liegt sie hier, mit den anderen Exil-Armeniern, unter einem Maulbeerbaum, in der Erde von Berlin. Die Stadt, die dann doch ihre Heimat geworden ist, ohne dass sie es zugeben konnte, da ist ihre Tochter sich sicher. Auch das ist Friedhof. Ein Ersatz-Frieden, eine Ersatz-Heimat. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Tagesspiegel