dialog No. 7 57 Fabian erinnert sich sehr gut an diesen Moment, als er die Entscheidung für sein Leben treffen musste. Er war in der zehnten Klasse, er hatte seinen Realschulabschluss ge- schafft – mit der Zulassung für das Gymnasium. Doch sollte er es wagen und Abitur machen? Konnte er, konnten seine Eltern sich das überhaupt leisten? Was sollte danach kom- men? Ein Studium etwa? Fabian ist ein Arbeiterkind. Niemand in seiner Familie hat das Abitur gemacht, niemand studiert. Besonders viel Geld hat seine Familie auch nicht. „Man kann sagen, dass wir arm sind“, sagt Fabian heute. Sein Vater war KFZ- Schlosser, arbeitete viel für wenig Geld, wurde arbeitslos, dann wieder eingestellt, ein Hin und Her, bis er in den Ruhestand ging, mit einer kleinen Rente. Seine Mutter hatte eine Stelle auf 450-Euro-Basis. Es reichte immer nur von Monat zu Monat. In den Urlaub gefahren sind sie nie, sich etwas geleistet haben sie sich auch nie. „Das macht eng, das macht Angst, das nimmt Leichtigkeit“, sagt Fabian. Nur knapp 15 Prozent junger Erwachsener mit Eltern ohne Abitur erreichen einen Hochschulabschluss. Groß gewachsen ist er, kurze Haare, eine Brille auf der Nase und eine ruhige, überlegte Art. Er sitzt in einem Cafe in Gießen und erzählt von seinem Weg. Er möchte das mit seinem echten Namen und mit seinem Gesicht tun. Arm ge- wesen zu sein sei nichts, wofür man sich schämen müsse, sagt er. Neben ihm sitzt Julia, lange blonde Haare, schnell und quirlig, wenn ihr was auf dem Herzen liegt, sagt sie das gleich. Auch sie ist ein Arbeiterkind, auch sie möchte be- richten. Hinter ihnen ragt das Hauptgebäude der ehrwürdi- gen Justus-Liebig-Universität Gießen auf. Julias und Fabians Geschichten haben mit dem Ver- sprechen unserer Gesellschaft zu tun, dass jedes Kind die- selben Chancen auf eine bestmögliche Bildung und damit auf eine bestmögliche Zukunft haben soll. Bildungsge- rechtigkeit wird das genannt. Doch diese gibt es so nicht. Die soziale Herkunft bestimmt immer noch über den wei- teren Bildungsweg. Laut der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, errei- chen nur knapp 15 Prozent junger Erwachsener mit Eltern ohne Abitur einen Hochschulabschluss. Der europäische Durchschnitt liegt hingegen bei 21 Prozent. Das bedeutet, einmal Arbeiterkind, fast immer ein Arbeiterkind. Anders- rum studieren 79 von 100 Akademikerkindern. Bevor es losgeht: Es ist überhaupt nichts Schlechtes da- ran, kein Abitur zu machen und nicht zu studieren. Schlecht ist, dass viele von denen, die es möchten, durch ungleiche Startchancen davon abgehalten werden. Zurück zu Fabians Moment der Entscheidung. Sein Va- ter sagte ihm: Mach eine Lehre, dann hast du was in der Hand. Das Praktikum als Industriemechaniker hatte Fabian aber gezeigt, dass das nicht seine Welt war und er lieber mit dem Kopf arbeiten möchte. Also Abitur. Doch wo? Auf dem Gymnasium des Ortes war seine Schwester gewesen. Sie war gemobbt und ausgeschlossen worden, weil sie nicht an den Klassenfahrten teilnehmen konnte und keine Markenklamotten trug. Sie hielt es nicht mehr aus und ging ab, ohne Abitur. Außerdem brauchte Fabian eine andere Sprachenkombination. Die nächste für ihn passen- de Schule lag einige Orte weiter. Das bedeute Zug fahren. Das bedeutete Tickets kaufen. 1.200 Euro im Jahr – nur um zur Schule zur kommen. Das ermäßigte Schülerticket gab damals noch nicht. Seine Eltern würden das Geld niemals aufbringen können. „Also ging ich arbeiten. Sechs Euro die Stunde, in ausnahmslos allen Schulferien. Doch die Fachoberschule war es jeden Cent wert“, sagt Fabian. Kurz vor dem Abschluss besprach er mit seiner Vertrau- enslehrerin, wie es nun weitergehen solle. „Ich wollte stu- dieren“, sagt Fabian. Aber wie er das finanziert und orga- nisiert kriegen sollte, wusste er nicht. „Es gab ja in meiner Familie niemanden, der mir helfen konnte. Der Ahnung davon hatte. Der das schon mal gemacht hatte.“ Seine Leh- rerin gab ihm einen Flyer der Organisation „Arbeiterkind“. Julia war schon auf dem Gymnasium. Dass sie Abitur machte, war klar. Sie gehörte zu den Besten ihres Jahr- gangs. Während ihre Freundinnen sich über Studiengänge unterhielten, „habe ich noch nicht einmal darüber nach- gedacht. Es war, als ob Studieren für mich überhaupt nicht in Frage käme. Völlig ausgeschlossen, außerhalb meiner Möglichkeiten“, sagt Julia. Sie machte eine Lehre als Bank- kauffrau, wie ihre Tante. „Geld verdienen, meinen Eltern nicht auf der Tasche liegen und was Vernünftiges machen“, sagt Julia. Fünf Jahre war Julia vernünftig, bis es ihr reichte. Sie wollte mehr. Sie wollte studieren: „Jura, ein Kindheitstraum.“ Doch wie? Bis der Bafög-Antrag bearbeitet ist, dauert es oft Monate Ortswechsel, Berlin, ein Bürohaus, ganz oben, Katja Urbatsch schaut aus dem Fenster, in den Himmel, da, wo die Perspektiven unendlich erscheinen. Sie war es, die vor zehn Jahren „Arbeiterkind“ gegründet hatte. „Wir helfen uns gegenseitig. Wir sind der Support, der uns an anderen Stellen fehlt“, sagt sie. Urbatsch ist eine Macherin, selbst- bewusstes Auftreten, schnelles Denken, klare Worte. Sie