dialog No. 10 39 sieht? Wie man mit Problemen umgeht? Wie man streitet oder das Leben genießt? All das musste bis jetzt, bis zu dieser Autobahnfahrt gelaufen sein. Ich merkte, wie mir die Minuten durch die Finger rannen. Mir wurde klar, wie kostbar unsere Zeit gewesen war und wie ich Angst bekam, sie nicht genutzt zu haben. Wie oft hatte ich nur mit halbem Ohr hingehört, weil ich mit meinen eigenen Sachen beschäftigt war. Wie oft hatte ich gesagt: „Jetzt nicht, keine Zeit, muss noch arbeiten.“ Ich war 21 Jahre alt, als meine Tochter auf nisiert i h die Welt kam. Mit ihrer Mutter blieb ich nur drei Jahre zusammen. Wir waren jung und wussten es nicht besser. Von da an teilten wir uns erst die Betreuung, dann zog meine Tochter komplett zu mir. Meine Tochter und ich, wir sind, so kann man es durch- aus sagen, zusammen groß geworden: sie als Kind und ich als Erwachsener. a g r o e i Ich habe alles aus dem S e r. Bauch heraus gemacht, ohne Bücher, Ratgeber: viel rausgehen, viel vorlesen, viel kuscheln, viel Eis essen und ansonsten „immer mit der Ruhe“. Ja, das Fieber wird schon runter- gehen. Nein, sie wird nicht vom Baum stürzen. Sie wird ihren Weg schon gehen. Und natürlich musste ich meinen Weg auch erst gehen. cht sie selb Ja, es war schwierig. Andere machten Party oder Erasmus. Ich war verantwortlich. Andere bekamen Bafög oder Geld von den Eltern. Ich ging arbeiten. Andere bastelten an ihren Karrie- ren. Ich besuchte mit meiner Tochter die güns- tige Kino-Nachmittagsvorstellung, wir schauten Pippi Langstrumpf und dazu kauten wir die rein- geschmuggelten Gummibärchen, Popcorn konnten wir uns nicht leisten. Später gestand mir meine Tochter, dass sie immer furchtbare Angst hatte, erwischt zu werden. Die Klamotten waren dritter Hand. Die Ausflüge führten in den Stadtwald oder an den Stadtsee, immer mit der S-Bahn oder dem Fahrrad. Ja, es war ein riesengroßes Provisorium, oft musste das Kind nebenbei passieren, neben dem Schreiben der Hausarbeiten, neben dem Arbeiten. Das Kind war nicht mein Projekt, stand nicht im Mittelpunkt. Wir mussten einfach schauen, dass alles klappte. Ich erklärte ihr die Welt, dachte mir Geschichten aus, war Sicher- heit und Trost. An all das dachte ich, während wir ihrem neuen Leben entgegenfuhren. Sie war mit ihren Gedanken schon in diesem neuen Leben, hatte Angst, war aufgeregt, wie würde all das sein. Für sie war es kein Abschied, sondern ein Neu- anfang. Für mich war es ein Abschied. Was der Neuanfang bringen würde, müsste ich dann sehen. r L eben oh Im Wohnheim angelangt, trug ich ihre Sachen in ihr neues Zimmer, umarmte sie noch einmal, setzte mich ins Auto, zurück auf der Autobahn lief im Radio das Lied: „Wild n e m World“. Ich musste weinen. a i c h . U m zug: m Heute, knapp drei Jahre später, weiß ich, dass es fast zwei Jahre gedauert hat, bis sich für mich alles normalisiert hat. Bis die täglichen Gedanken auf- gehört haben, wie es ihr wohl geht. Bis es in Ord- nung war, auch mal einen Monat lang nichts zu hören. Nicht gleich zu schreiben, zu fra- gen, was los sei, den Vorwurf zwischen den Zeilen. Heute, wenn wir uns wiederse- hen oder telefonieren, knüpfen wir einfach da an, wo wir aufgehört haben. Ratschläge gibt es von mir kaum. Ich höre zu, was los ist, denke mir meinen Teil und weiß, dass jeder seine Feh- ler und Erfahrungen machen muss, am Ende wird alles gut ausgehen. Sie organisiert ihr Leben ohne mich. Umzug: macht sie selber. Neuer Studienplatz: Dafür entscheidet sie sich alleine. Job kündigen, weil der Chef toxisch ist: Das macht sie alleine. Das ist toll. Text und Foto Karl Grünberg