dialog No. 6 39 gewaltiger, ob sie einen deutschen, türkischen, arabischen oder russischen Hintergrund haben, ist völlig egal. „Wir lesen ihre Akten nicht, wir fragen sie nicht nach ihren Ta- ten. All das spielt keine Rolle. Sie müssen spielen wollen, sie müssen sich einlassen wollen und bereit sein, aus sich herauszugehen. Darum geht es“, sagt Peter Atanassow, der Regisseur. Los geht es im Stern. Da ist ein runder, großer hoher Raum, der sich bis in die dritte Etage erstreckt, strahlen- förmig gehen hier die Gänge ab, alle paar Meter eine Zel- lentür, dahinter ein kleiner Raum, fünf Quadratmeter, ein Bett, ein Tisch, ein Klo und ein Waschbecken. Aufwärm- übung. „Bababa“, macht Peter vor. „Bababa“, machen die elf Männern nach. Sie schwingen die Arme, sie machen Babygeräusche, sie brüllen und flüstern. Ein bisschen ahnt man jetzt schon, was für einen machtvollen Sog diese Män- „Wir lesen ihre Akten nicht, wir fragen sie nicht nach ihren Taten. All das spielt keine Rolle.“ ner, diese Kulisse und ein Theaterstück entwickeln können. Jetzt erklärt Peter, was sie heute üben werden, warum eine Szene gestrichen wurde, dass bald die Kostüme kom- men. „Kollegen“, so spricht er sie an. „Kollegen, ein biss- chen mehr Konzentration bitte.“ Oder: „Das war wirklich gut, Kollegen.“ Das ist wichtig. Begegnung auf Augenhöhe. Hier wird Theater gespielt. Nur darum geht es. Vordergrün- dig. „Ich könnte ihnen nicht als Sozialarbeiter oder als Päd- agoge kommen, das würden sie sofort durchschauen“, sagt Peter. Szenenprobe, Trakt A, die Bühnenbretter haben sie ein- fach über den Gang auf die Geländer der zweiten Etage ge- legt. „Wir müssen improvisieren und die Bühne so bauen, wie es die Gegebenheiten verlangen“, erklärt Peter. Das Theaterstück wird über mehrere Räume gespielt werden, die Zuschauer laufen vom Trakt A über den Stern in den Trakt B. Heute ist eine Szene dran, in der sich die Bewohner der Stadt Theben darüber aufregen, dass Fremde die Seuche in die Stadt bringen würden. „Kollegen“, ruft Peter. „Das muss kräftiger sein, ihr seid jetzt die Populisten, die gegen die Fremden hetzen.“ Noch brauchen die Jungs ihre Manu- skripte. Nur Adrian nicht. Er hat schon geübt und so viel auswendig gelernt, wie er in seinen Kopf hineinbekam. „Ich muss ins kalte Wasser springen“, sagt er. Jeder von ihnen hat seine eigene Körpersprache, seine eigene Art zu spre- chen, seinen eigenen Akzent, womit sie versuchen, der etwas steifen Theatersprache und ihrer ungewohnten Wort- Reihenfolge Herr zu werden. Der eine breitbeinig und läs- sig, der andere steif und in sich gekehrt. Es scheint, als ob die Rollen genau zu ihren Eigenarten passen würden. „Ihr Leben hat auch ihren Körper gezeichnet und damit arbeite ich“, sagt Peter. Gleichzeitig ist er sehr genau, korrigiert hier, lässt da nicht locker. Auch das gehört dazu. Er verlangt alles von ihnen, muss aber gleichzeitig aufpassen, es nicht zu übertreiben, damit seine Anforderungen bei ihnen nicht in Frust umschwingen und dieser Frust zum Aufgeben führt. Pause. Sie trinken Kaffee, sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten, an einem Tisch üben zwei noch einen Dialog für die nächste Szene, an einem anderen wird gelacht. Warum sie hier mitmachen? „Es ist etwas anderes als der Alltag“, sagt der eine. „Wenn Aufführung ist, dann vergisst man, dass man im Gefängnis ist, dann zählt nur noch der Moment“, sagt der andere. „Weil man sich endlich ein biss- chen lebendig fühlt“, sagt wieder ein anderer. Dann berich- ten sie, wie bei der letzten Aufführung, der Beethoven- Oper „Fidelio“ sogar das Orchester der Philharmoniker sie begleitet hat. An der Wand hängen die Rezensionen der FAZ, das Fernsehen hat die Aufführung übertragen. Es ist leicht, sich über ihre Begeisterung zu freuen. Doch in die- sem Moment stellt sich auch die Frage, wie es den Ange- hörigen der Opfer ergeht, wenn sie sehen, dass dieser oder jener jetzt sogar im Fernsehen auftritt. Ist das nicht zu viel Aufmerksamkeit? Geht es wieder einmal nur um die Täter? Schwer auszuhalten: Routine Das kann Peter nicht beantworten. Er weiß aber, dass es die Jungs auf gewisse Art und Weise weiterbringt: „Wenn man bei so einem Theaterstück mitmacht, die Routine, die Konditionierung aushält, das stundenlange, tagelange Üben, dass man dabei von mir korrigiert und kritisiert wird. Wenn man es dabei aushält mit 15, 20 Leuten mit verschiedenen kulturellen Hintergründen, mit den ver- schiedensten Charakteren, dann ist das eine Leistung.“ Es gab 2016 eine wissenschaftliche Untersuchung, die bestä- tigte, dass das Theater eine Menge wichtiger Kompetenzen stärken würde, die man brauche, um sich straffrei in der Gesellschaft aufhalten zu können. Ein Aufbruch also? 20.30 Uhr. Die Proben sind vorüber. Sie haben gesun- gen, geflüstert, gebrüllt und geflucht. Sie waren Ödipus, Kreon und Bürger einer antiken Stadt. Jetzt führt der Wär- ter sie wieder nach draußen. Jeder kehrt in sein Haus, in seine Zelle, in seine Gedanken zurück. Stille kehrt ein. Bis zum nächsten Tag.